Alles ist heutzutage eine Chance.Ist Ihnen das auch schon aufgefallen? Corona? Eine Chance für die Gesellschaft. Burnout? Eine persönliche Chance. Klimawandel? Ein sehr grosse globale Chance. Das Leben scheint eine Ansammlung von lauter mehr oder weniger grossen Chancen zu sein, die nur darauf warten, endlich von uns genutzt zu werden.

Es gibt Bücher mit dem Titel «Krankheit als Chance» (Untertitel: Ganzheitliche Wege zur Selbstheilung) und sogar – kein Witz – «Tod als Chance». Und wenn einem als Journalist nichts einfällt, nutzt man die Chance-Floskel auch gerne als Titel. «Neue Agrarpolitik als Chance» oder «Direktvermarktung als Chance».

Es scheint also alles eine Chance zu sein. Selber schuld, wer sich unterkriegen lässt von einer schlimmen Scheidung oder einem tragischen Todesfall, so die Botschaft. Man muss nur wollen, dann geht es schon, und siehst du es nicht als Chance, bist du zu schwach und solltest gefälligst an deiner Einstellung arbeiten.

Es ist gut und recht, Optimistin oder Optimist zu sein und das Glas halb voll zu sehen. Das geht aber nicht immer und muss auch nicht immer gehen. Nehmen wir an, eine Ihnen nahestehende Person sei kürzlich verstorben. Nun gelangt ein Bekannter an Sie und meint mit aufmunterndem, debilem Lächeln: «Gell, so ein Ende ist ja immer auch ein Anfang und somit auch eine Chance.» Ich habe vollstes Verständnis, wenn Sie dieser Person fadengerade eine reinhauen. Wenn Ihr Gegenüber dann konsequent ist, sieht er oder sie den Schlag dann auch als Chance. Toll.

Die Sache mit den Chancen hat auch hinsichtlich der Agrarpolitik ihre Tücken. Die Massentierhaltungs-Initiative oder der Absenkpfad für die Risikoreduktion bei Pestiziden haben eine hohe Sprengkraft. Diese nur als Chance und nicht auch als beträchtliches Risiko zu sehen, fände ich eher gewagt.

Mir fällt auf, dass es meistens Institutionen sind, welche von Chancen reden. Selten habe ich einen Landwirt sagen gehört: Doch, ich finde die neue Agrarpolitik eine grosse Chance, endlich istsie da… Und ich bin mir nicht sicher, ob diese Institutionen mit «Chance für die Landwirtschaft» nicht viel eher Chancen für sich selber meinen. Neue Massnahmen und Konzepte, das braucht schliesslich eine intensive fachliche Begleitung von ganz vielen Stellen.

Auch Menschen, die nicht direkt in der Landwirtschaft tätig sind, machen den Link zwischen Landwirtschaft und Chance. Digitalisierung, technischer Fortschritt, Direktvermarktung, exotische Nutztiere, neue Kulturen oder innovative Vermarktungskonzepte werden als Beispiele für solche Chancen genannt.

Neue Chancen zu sehen und vor allem auch beim Schopf zu packen, braucht aber nebst offenen Augen auch Zeit, Energie und häufig auch Geld. Um dann irgendwann einmal von so einer Chance leben zu können, ist letztendlich viel Fleiss nötig. Von selbst wird aus einer guten Idee nicht ein florierender, professioneller Betriebszweig.

Längst nicht alles, was aus der Ferne wie eine nette Idee aussieht, ist von nah betrachtet immer noch eine. Nicht jeder Scheiss ist auch eine Chance, wie auch der Sanggaller Sänger Manuel Stahlberger treffend bemerkt. Ein verhageltes und anschliessend überschwemmtes Feld mit Kartoffeln etwaist keine Chance. Es ist einfach nur ein Scheiss.

«Plötzlich Bauer»

Sebastian Hagenbuch ist Landwirt und Agronom. Er bewirtschaftet mit seinen Eltern einen Betrieb mit zwei Standorten im Freiamt AG. Er arbeitet in einem Teilzeitpensum als Redaktor Pflanzenbau für «die grüne».
Hagenbuch begann sich erst spät für die Landwirtschaft zu interessieren. In seiner Kolumne erzählt ervon Alltäglichem und Aussergewöhnlichem, wechselt ab zwischen Innen- und Aussensicht, immer mit kritischen Blick und einem Augenzwinkern.