Das Tierwohl lässt sich nicht an einem einzigen Parameter messen. Für Rinder, Schweine und andere Nutztiere ist es zum Beispiel nicht relevant, mit wie vielen Artgenossen sie auf dem gleichen Landwirtschafts-Betrieb zusammen leben. Sie brauchen «nur» Platz und Auslauf im Freien.
Für Hühner gilt im Prinzip dasselbe. Wie eine Dissertation an der ETH Zürich und der deutschen Universität Giessen zeigt, organisieren sie sich in verhaltensgerecht gestalteten Volieren-Ställen wie in der freien Natur in Untergruppen mit etwa zehn Tieren.
Jede dieser Gruppen besitzt im Stall einen Stammbereich, in den sie sich zum Ruhen zurückzieht. Von diesem Stammbereich bricht die Gruppe täglich mehrmals auf zu Erkundungs- und Futtergängen im gesamten Stall, in den Wintergarten und auf die Weide.
Trotz Nachfragesteigerung bekommen die Landwirte nicht mehr für ihre Produkte
Für unsere Vorfahren – respektive deren Nutztiere – war die Herdengrösse das kleinste Problem. Sie mussten dafür gegen Tierseuchen und Zoonosen kämpfen. Heutzutage erfreuen sich Schweizer Kühe, Schweine und Hühner guter Gesundheit. Tierseuchen und Zoonosen kommen kaum noch vor.
Dass seit 2000 trotzdem über 30 Prozent der Schweizer Landwirtschafts-Betriebe aufgeben mussten – von 70'537 auf 49'363 Betriebe – ist auf den Strukturwandel der Schweizer Landwirtschaft zurückzuführen. Auf der anderen Seite ist die Schweizer Bevölkerung – die es zu ernähren gilt – in der gleichen Zeit von 7,2 auf 8,6 Mio Menschen gewachsen.
Was sich seit dem Jahr 2000 nicht geändert hat, sind die Produzentenpreise. Trotz massiver Nachfragesteigerung – und entgegen jeder ökonomischen Theorie – bekommen die Schweizer Landwirte 2020 nicht viel mehr für ihre Produkte als vor zwanzig Jahren.
Ein wichtiger Grund dafür ist die einseitige Marktmacht der Grossverteiler: Konservativ geschätzt, werden gemäss der «BauernZeitung» zwei Drittel der Schweizer Landwirtschafts-Erzeugnisse direkt oder indirekt über Migros und Coop abgesetzt.
Seit den 1990er-Jahren sind die Bauern zwischen Stuhl und Bank
In den 1990er-Jahren zeichnete sich ab, dass die Gesellschaft längerfristig eine umweltschonende, tiergerechte und auf Nachhaltigkeit ausgerichtete landwirtschaftliche Produktion will.
1999 trat das neue Schweizer Landwirtschaftsgesetz in Kraft mit den Hauptzielen «mehr Markt, mehr Ökologie»: Die staatlichen Preis- und Abnahmegarantien wurden aufgehoben und der Ökologische Leistungsnachweis ÖLN als Voraussetzung für Direktzahlungen eingeführt.
Der Systemwechsel hin zu Marktpreisen kombiniert mit Direktzahlungen konnte das «Bauernhofsterben» aber nicht aufhalten. Im Gegenteil: Der Strukturwandel hin zu immer weniger und gleichzeitig immer grösseren Betrieben akzentuierte sich gerade bei den Nutztieren.
Der Markt zwingt die Landwirte zur Mehrproduktion – und kritisiert sie gleichzeitig dafür
Der oft prekären Preis- und Einkommens-Situation versuchen viele Schweizer Landwirte mit der Strategie der Mehrproduktion zu begegnen. Sie dehnen im Betrieb den Tierbestand aus und steigern via Fütterung und Tierzucht das Leistungsvermögen der Nutztiere.
Diese ökonomische Anpassungsstrategie an die weltweite Preisdrückerei hin zur Billig-Lebensmittelproduktion führt aber in ein Dilemma: Ein Teil der Schweizer Bevölkerung sieht in den erzwungenen Hochleistungen und den grossen Ställen einen Trend zur Massentierhaltung, wie sie im Ausland betrieben wird (siehe das Editorial von «die grüne»-Chefredaktor Jürg Vollmer: «In der Schweiz gibt es keine Massentierhaltung»)
Das Wohl und die Gesundheit der Nutztiere zu gewährleisten, wird mit steigenden Leistungen und wachsenden Herdengrössen eine immer grössere Herausforderung, der nicht alle Bauern und Tiere gewachsen sind.
Sehr grosse Tierbestände können das Wohlbefinden und die Gesundheit der Nutztiere beeinträchtigen
In den Erläuterungen zum direkten Gegenvorschlag zur Massentierhaltungs-Initiative MTI erklärt das federführende Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV pauschal, das Tierwohl hänge nicht von der Bestandesgrösse ab.
Selbstverständlich kommt es zum Beispiel für Mastschweine, Mastkälber und Mastvieh nicht direkt darauf an, ob und wieviel weitere Buchten mit Artgenossen auf einem Betrieb sind. Für diese Masttiere ist es in erster Linie wichtig, ob die eigene Bucht genügend Platz bietet, einen eingestreuten Liegebereich und Auslauf ins Freie – oder nicht. Und dass ihr Landwirt eine erstklassige Pflege sicherstellt.
Eine differenziertere Sicht deutet indessen darauf hin, dass sehr grosse Tierbestände das Wohlbefinden und die Gesundheit beeinträchtigen können.
Bei grösseren Herden hat der Landwirt weniger Zeit für Tier-Beobachtung und Tier-Pflege
Die Tier-Beobachtung und Tier-Pflege ist beim Tierschutz die halbe Miete. Kleinere Herden sind übersichtlicher, kranke oder verletzte Tiere fallen hier rasch auf. In kleineren Herden kann auch der Mensch-Tier-Kontakt enger und individueller aufrecht erhalten werden.
Eine gute Mensch-Tier-Beziehung beeinflusst das Tierwohl und die Tiergesundheit positiv. Zum Beispiel die Eutergesundheit und die Zellzahl, den Stress-Level der Tiere, das Immunsystem oder die Ausweichdistanz.
Für das «Management» grosser Herden müssen zunehmend technische Geräte und Sensoren herangezogen werden. Diese sind hilfreich, können das Auge des Landwirtes und seine Vertrauensstellung bei den Tieren aber nicht ersetzen. Zudem wird die Zeit immer knapper für etwas vom Schönsten am Bauernberuf, den Umgang mit den Tieren.
Höherer Antibiotika-Einsatz in grösseren Tierbeständen
Eine Studie der ETH Zürich und eines Milchverarbeiters deutet auf einen gesamthaft höheren Antibiotika-Verbrauch von Milchkühen über 7000 Liter Jahresleistung hin.
Die «Freiluftkalb-Studie» der VetSuisse in Bern in Zusammenarbeit mit IP-SUISSE und dem Migros-Genossenschafts-Bund legt nahe, dass Mastkälber in sehr grossen Gruppen von 100 und mehr Tieren trotz bester Haltung und konsequentem Rein-Raus-Verfahren ein Vielfaches an Antibiotika benötigen wie kleine Mastbetriebe mit 20 bis 30 Kälbern, die aus dem eigenen Betrieb stammen oder aus der nahen Region zugekauft werden.
75 Prozent der Schweizer Mastkälber haben Magen-/Darm-Läsionen, wobei Tiere in grossen Herden deutlich stärker betroffen sind.
Antibiotika-Resistenzen haben einen Zusammenhang mit der Stallgrösse
Auch hinsichtlich der Antibiotika-Resistenzen scheint es einen Zusammenhang mit der Stallgrösse zu geben. Das Deutsche Bundesamt für Risikobewertung zeigte 2014 in einer BfR-Dokumentation zu MRSA auf, dass die Häufigkeit von MRSA (Methicillin resistenter Staphylococcus aureus) in Schweinemast-Betrieben bis 500 Tiere bei 27,5 Prozent der Betriebe lag, in Mastställen über 1000 Tiere bereits bei 67,1 Prozent.
Die MRSA-Häufigkeit ist in den riesigen Mastbetrieben der EU deutlich höher als in der Schweiz. So sollen 99 Prozent der Schlachtschweine in den Niederlanden, aber nur 20 Prozent in der Schweiz, betroffen sein.
Dasselbe Bild bei den Schlachtkälbern: In Deutschland sind 45 Prozent der Schlachtkälber betroffen, in der Schweiz nur 4 Prozent.
Während in der Schweiz höchstens 10 Prozent der Masthühner-Herden mit Antibiotika behandelt werden müssen, erhalten die im Durchschnitt fünf bis zehn Mal grösseren Masthühner-Herden in Deutschland während der kurzen Mastzeit generell und mehrmals Antibiotika.
In der Schweiz stellte man in Betrieben mit hohem Zukauf und Handel an Tieren der Rindergattung eine ESBL-Frequenz (Extended-Spektrum Beta-Laktamasen) von 20 Prozent fest, zweieinhalb Mal mehr als in anderen Betrieben.
Alibi-Freilandhaltung und Verhaltensänderungen
In Legehennen-Ställe mit 12'000 und mehr Tieren wird oft eine Art Alibi-Freilandhaltung durchgeführt: Die Aufenthaltsdauer der Hennen auf der Weide ist dort stark rückläufig und durch bedenkliche Tier-Massierungen rund um den Stall leiden Hygiene und Ökologie.
Die Gründe dafür liegen im Verhalten von Hühnern. Wildlebende und domestizierte Hühner entfernen sich nie mehr als maximal 100 bis 150 Meter von ihrem Schlafplatz respektive Stall. Weiter entfernt liegende Weidebereiche bleiben ungenutzt.
Bei sehr grossen Ställen gibt es deshalb eine deutliche Tendenz zu einer rückläufigen Weidenutzung, während Hühnerherden in kleinen Ställen viel häufiger auf der Wiese anzutreffen sind.
Eine deutsche Untersuchung deutet darauf hin, dass Herdengrössen von 40'000 Poulets im Vergleich zu kleineren Ställen mit 10'000 Tieren zu Verhaltensänderungen führen, indem Tiere sich weniger bewegen und mehr ruhen, was für Jungtiere untypisch ist.
Mit fairen Preisen müssen Bauern keine Massentierhaltung führen
Die ökonomische Strategie, auf grössere Herden und leistungsfähigere Tiere zu setzen, birgt ein erhöhtes und erhebliches Risiko für Probleme beim Tierwohl und der Tiergesundheit.
Zunehmende Teile der Bevölkerung sehen darin einen Trend zur Massentierhaltung nach ausländischem Vorbild.
Die Schweizer Lebensmittelbranche steht hier gesamthaft in der Pflicht. Eine Lösung auf dem Buckel der Bauern zwingt diese direkt in industrielle Tierhaltungsformen nach ausländischem Vorbild. Was Not tut, wäre die Einsicht – insbesondere bei den Grossverteilern – faire Preise nicht nur für Kaffee und Schokolade, sondern gerade auch für Produkte von Schweizer Bauern zu bezahlen.
Negativ-Folgen der einseitigen Hochleistungszucht
Die «Amerikanisierung» der Milchvieh-Zucht hat das Erscheinungsbild unserer Schweizer Milchkühe völlig verändert. Im Gegensatz zu einem «normalen» Rind sind moderne Milchkühe hinten massiver. Dies hat zur Folge, dass die von Natur aus schwächer ausgebildeten Hintergliedmassen und die Klauen stärker belastet werden, so dass Lahmheiten häufig auftreten.
Der Fleischertrag moderner Milchkühe ist gering, so dass die Schweiz heute zwar zu viel Milch produziert – aber zu wenig Kühe hat. So müssen jährlich 16 000 Tonnen Kuhfleisch importiert werden.
Zwischen hoher Milchleistung und Gesundheit besteht eine negative genetische Korrelation:
– Hohe Milchleistung führt zu mangelnder Fruchtbarkeit. Zur künstlichen Auslösung des Eisprungs gibt es 13 Präparate von Gonadotropin-Releasing-Hormonen.
– Hohe Milchleistung führt zu Euter-Entzündungen, die jährlich 150 Millionen Franken Schäden verursachen. Gemäss Tierarznei-Firmen nehmen Mastiden vor allem in Grossbetrieben mit Hochleistungs-Kühen zu.
Im Kommen ist das Verabreichen von Monensin («Kexxtone»), einem antibakteriellen Wirkstoff gegen Ketose. Dieses Mittel wird im Ausland bereits systematisch als «Kuh-Doping» eingesetzt, mit dem die Kühe bis zu zehn Prozent mehr Milch geben.
Da hohe Milchleistungen viel Kraftfuttereinsatz benötigen, verlagert sich die Milchproduktion weltweit hin zum Ackerland, was für das Grasland und Weideland Schweiz keine Option sein kann.
Der Autor: Hansuli Huber
Hansuli Huber ist auf einem Bauernhof im Zürcher Weinland aufgewachsen und studierte an der ETH Zürich Agronomie.
1985 begann er als Berater für Nutztierfragen beim Schweizer Tierschutz STS. Als STS-Geschäftsleiter hat Huber die Organisation von 1998 bis Ende 2018 zur wichtigsten Tierschutz-Organisation der Schweiz entwickelt.