Kurz & bündig
- Ab einer Trächtigkeitsdauer von 230 Tagen bestehen Chancen, dass ein Kalb überlebt.
- Entscheidend dafür ist die Lungenreifung, welche weder vor der Geburt gemessen noch nach der Geburt medikamentös beeinflusst werden kann.
- Die Erhaltung der Körper-temperatur ist neben der Atmung die grösste Herausforderung. Wird das Frühchen nicht zusätzlich warm gehalten, sind die Überlebenschancen sehr gering.
- Da ein Frühchen keine grossen Milchmengen aufnehmen kann, sollte es 4 bis 8x täglich mit kleinen Mengen (2 bis 5dl in kleinen Nuckelflaschen) getränkt werden.

Ein gewöhnlicher Februar-Tag im Kuhstall – zumindest vorerst: Die Tierärztin macht bei den Kühen Trächtigkeits- und Fruchtbarkeitsuntersuchungen. Dann fällt nebenan bei den Trockenstehenden eine Kuh auf, bei welcher Teile von Fruchthüllen aus der Zucht hängen. Auf Nachfrage meint der enttäuschte Landwirt, dass diese Spitzen-Kuh wohl gerade abortiere, da die vollständige Tragzeit noch längst nicht erreicht sei.

Bei der Untersuchung der Kuh folgt die grosse Überraschung: Das Kalb lebt! Plötzlich geht es um eine Geburt: Ein sauberes Leintuch wird gebracht, um das Kalb einzuwickeln, Kolostrum wird zum Auftauen aus der Kühltruhe geholt, ein Iglu wird mit einer Wärmelampe ausgerüstet und die Besamungskarten werden hervorgeholt.

Bald ist klar: Das kurz darauf lebend geborene, weibliche Kalb mit wertvoller Genetik hatte statt 287 nur 235 Tage Zeit, in der Gebärmutter zu wachsen und wiegt nur 22 Kilogramm. Und was jetzt?

Lohnt sich der Aufwand für ein zu früh geborenes Kalb?

Zu früh geborene Kälber stellen Betriebsleiter und ihre Familien immer wieder vor die schwierige Entscheidung «Aufpäppeln oder Einschläfern?». Diese Frage lässt sich meist nicht einfach beantworten, haben doch verschiedene Faktoren entscheidenden Einfluss auf das Gelingen des Projektes «Frühchen»:

  • Allgemeinzustand des Kalbes: Ist das Tier überhaupt überlebensfähig?
  • Warme Unterbringungsmöglichkeit: Gibt es einen geeigneten Ort, um ein solches Frühchen unterzubringen?
  • Zeitliche Kapazität: Hat jemand Zeit und Motivation, den nötigen Mehraufwand zu betreiben?

Lunge musst genügend gereift sein - andernfalls droht Atemnot

Die Überlebensfähigkeit eines unreif geborenen Kalbes wird massgeblich durch den Grad der Lungenreifung beeinflusst. Diese Reifung ist direkt abhängig von der Menge der Substanz Surfactant, welche erst in den letzten Trächtigkeitswochen produziert wird.

Surfactant dient dazu, die Oberflächenspannung der Lungenbläschen (Alveolen) zu verringern. Fehlt es, so kann das Kalb nur unter hohem Kraftaufwand einatmen, da bei jeder Ausatmung Bläschen zusammenfallen und nicht oder nur teilweise wieder geöffnet werden können. Die Atemnot verschlimmert sich im Laufe der ersten Lebensstunde kontinuierlich und das Blut kann somit nicht genügend mit dem lebenswichtigen Sauerstoff angereichert werden.

Inwieweit die Lungenreifung bei einem Frühchen bereits fortgeschritten ist, lässt sich weder vorhersagen noch nach der Geburt mit Medikamenten beeinflussen. Wird das Kalb aber deutlich vor dem 230. Trächtigkeitstag geboren, stehen die Überlebenschancen schlecht.

Geringes Geburtsgewicht, kurze Fellhaare, durchgebrochene Schneidezähne

Eine Schweizer Studie mit 2,1 Mio. Kälbergeburten zeigt, dass bei einer Trächtigkeitsdauer von 260 Tagen die Chancen zu überleben bereits auf rund 75 % steigen und bei 270 Tagen sogar bei 83 % liegen. Weitere Anzeichen für Unreife sind ein geringes Geburtsgewicht, kurze Fellhaare und weniger als sechs durchgebrochene Schneidezähne.

In der ersten Lebensstunde zeigt sich also, wie weit die Lunge entwickelt ist: Ist sie noch nicht reif genug (bzw. ist noch nicht genügend Surfactant vorhanden), wird das Kalb innerhalb der ersten Stunden reflexartig nach Luft ringen (stossartige Atembewegung bei geöffnetem Maul) und schlussendlich infolge Sauerstoffmangels sterben. Wenn das Kalb jedoch nach der Geburt und in den folgenden Stunden regelmässige, normale Atmung zeigt, ist dies ein gutes Zeichen.

Zu früh geborene Kälber müssen warm gehalten werden

Der nächste entscheidende Punkt für das Überleben des Kalbes ist die Erhaltung der Körpertemperatur. Ein zu früh geborenes Kalb kann nur überleben, wenn es dafür kaum Energie aufwenden muss.

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Dies ist nur möglich, wenn es von Anfang an in einer sehr warmen Umgebung (ca. 25 bis 30 Grad) untergebracht oder permanent gewärmt wird. Kommt ein Frühchen, wie alle anderen Kälber, einfach in ein Iglu oder in eine Kälberboxe, wird es mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht überleben, da es noch nicht imstande ist, seine Körpertemperatur auf den benötigten 38 bis 39,5 Grad zu erhalten.

Es empfiehlt sich, wie folgt vorzugehen:

  • Kalb sofort mit dem Haarföhn trocknen
  • in Decken einwickeln, Wärmelampe/-strahler anbringen
  • «Bettflaschen» dazu legen (v.a. in Herz- und Lungennähe)
  • Igluöffnung mit Decken teilweise verschliessen
  • oder das Kalb in die warme Stube zur Ofenbank legen

Unter der Lampe nicht überhitzen

Wichtig ist dabei eine regelmässige Überwachung der Körpertemperatur mit dem Fieber-Thermometer. Die Zieltemperatur liegt bei zirka 39 Grad. Das Kalb darf also unter der Lampe nicht überhitzen oder Verbrennungen erleiden, aber neben der kalt gewordenen Bettflasche auch nicht auskühlen.

Diese Massnahmen bedeuten einen erheblichen Mehraufwand und erfordern neben Willen und Geduld auch schlicht sehr viel Zeit. Es ist also eine legitime Überlegung, ob auf dem Betrieb überhaupt jemand diese Zeit investieren kann oder will, um ein Frühchen zu versorgen – besonders weil die Erfolgschancen anfänglich oft unklar und die Wirtschaftlichkeit fraglich sind.

Sind jedoch Kapazität und Motivation für ein «Hobby-Tier» vorhanden, der persönliche Ehrgeiz geweckt und das Kalb vorerst bei gutem Allgemeinzustand, stehen die Vorzeichen für das Überleben eines Frühchens gut.

Welches Futter braucht ein Frühchen?

Neben der Wärme ist auch eine optimale Versorgung des Kalbes mit Nährstoffen sowie Vitaminen und Spurenelementen wichtig. Das Kalb muss schnellstmöglich hochwertiges Kolostrum erhalten (meist nicht vom Muttertier möglich), welches notfalls auch sehr vorsichtig gedrencht werden kann. [IMG 3]

Ziel ist, dass das Kalb innerhalb von 12 Stunden ca. 8 bis 10 % seines Körpergewichts in Form von Kolostrum aufgenommen hat (1,5 bis 2 l bei 20 kg KGW). Obwohl die Hygiene bei der Versorgung jedes Kalbes eine Rolle spielt, ist sie bei einem Frühchen besonders wichtig. Die Situation einer Neugeborenen-Station im Spital lässt sich sicherlich nicht mit einem Stall vergleichen, dennoch kann es nicht schaden, einiges abzuschauen.

Zu früh geborene Kälber können nicht grössere Mengen Milch pro Mahlzeit aufnehmen und müssen daher mehrfach (4 bis 8 Mal) täglich mit kleinen Mengen (2 bis 5 dl) versorgt werden. Zudem lohnt es sich, den Kälbern frühzeitig ein Vitamin-Präparat mit Selen und Eisen («Kälberbooster») zu verabreichen, um allfälligen Mängeln vorzubeugen.

«Espoir» steht nun kurz vor dem Abkalben

Was geschah nun mit dem eingangs erwähnten Kalb? Die Betriebsleiterfamilie entschied gemeinsam, dem Kalb eine Chance zu geben, gab ihm den Namen «Espoir» (franz. Hoffnung) und legte sich kräftig ins Zeug.

Sie beschafften eine Lämmerflasche, um dem kleinen Kalb das Trinken zu ermöglichen. Damit wurden 6 bis 8 mal täglich kleine Milchmengen verabreicht, in den ersten drei Wochen sogar ausschliesslich Kolostrum.

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Zusätzlich zur Wärmelampe, Decken und Jacken wurde das Iglu im Stall mit Tüchern verhängt und bedeckt, sodass eine Art «Brutkasten» entstand. Klein-Espoir dankte den Einsatz mit viel Lebenswillen und bester Gesundheit, hatte weder Durchfall noch Lungenentzündung und entwickelte sich prächtig.

Auf Anfrage teilte der Landwirt freudig mit, dass Espoir bald aus dem Aufzuchtvertrag nach Hause kommen und in zirka acht Wochen im Alter von 26 Monaten abkalben wird. Die Besitzerfamilie ist überzeugt, dass nicht nur ihr grosser Einsatz, sondern auch die individuelle Veranlagung des Kalbes eine wichtige Rolle fürs Überleben gespielt hat.