Rund 25 Prozent der ukrainischen Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig. Diese Bauernfamilien können ihr Vieh, ihre Felder und ihre Landtechnik auch im Krieg nicht einfach dem Schicksal überlassen.
Während die Bevölkerung aus den Städten in den Westen flüchten kann, halten die Landwirte auf ihren Betrieben die Stellung. Mitten in einem von Russland erbarmungslos geführten Krieg, der Elend und Verderben in das grösste Land Europas bringt.
Wir zeigen, was die Landwirtschaft in der Ukraine leistet, mit welchen Problemen die Ackerbauern und Tierhalter dort kämpfen – und welche Auswirkungen der Krieg auf die Schweizer Landwirtschaft hat.
Was produzieren die Landwirte in der Ukraine?
Die 41 Millionen Hektaren Landwirtschafts-Land in der Ukraine werden von schätzungsweise 90'000 Landwirtschafts-Betrieben bewirtschaftet (genaue Zahlen dazu gibt es nicht):
- 1 % Gross-Betriebe mit Ø 120'000 bis über 500'000 Hektaren
- 49 % frühere Kolchosen (jetzt Pacht) mit Ø 1200 Hektaren
- 1 % mittlere Betriebe mit 80 bis 500 Hektaren
- 9 % Klein-Betriebe mit Ø 5 Hektaren
- 40 % Subsistenz-Betriebe unter 1 Hektare
Rund 33 Millionen Hektaren der Fläche sind Ackerland, meist fruchtbare Schwarzerde, auf dem vor allem Getreide produziert wird. Mehr als die Hälfte der Ernte – jährlich über 60 Mio Tonnen Getreide – geht ins Ausland. Die Export-Mengen und die wichtigsten Empfängerländer (alles Staaten mit einer fragilen ökonomischen und politischen Situation) alleine für den ukrainischen Weizen:
- Ägypten (3 Millionen Tonnen)
- Indonesien (2,7 Millionen Tonnen)
- Bangladesch (1,5 Millionen Tonnen)
- Pakistan (1,3 Millionen Tonnen)
- Türkei (1 Million Tonnen)
- Tunesien (1 Million Tonnen)
- Marokko (1 Million Tonnen)
- Jemen (700'000 Tonnen)
- Libanon (670'000 Tonnen)
- Philippinen (630'000 Tonnen)
Wenn man den Weltmakt-Anteil der verschiedenen Prdukte anschaut, versteht man, wieso die Ukraine als «Brotkammer» der Welt bezeichnet wird. Bei den Ölsaaten Raps und Sonnenblumen ist sie sogar Weltmarktführer.
Tonnen | Produkt | Weltmarkt-Anteil |
33 Mio Tonnen | Mais | 20 % |
24 Mio Tonnen | Weizen | 17 % |
4,0 Mio Tonnen | Gerste | 10 % |
2,5 Mio Tonnen | Soja | 1 % |
1,0 Mio Tonnen | Roggen | 40 % |
5,0 Mio Tonnen | Sonnenblumen-Kuchen | 15 % |
6,0 Mio Tonnen | Sonnenblumen-Öl | 24 % |
2,7 Mio Tonnen | Raps | 20 % |
Was ist das Geheimnis der Schwarzerde?
[IMG 4] Die Ukraine besitzt mit der Schwarzerde die fruchtbarsten Böden der Welt. In Europa findet man solche Böden nur noch in einigen Regionen im Osten Deutschlands (in der Magdeburger Börde, der Hildesheimer Börde und im Thüringer Becken) und Österreichs (Weinviertel und Burgenland).
Namensgebend ist der bis 80 cm tiefe, dunkelgrau bis schwarz gefärbte humusreiche Oberboden über einem kalkhaltigen Untergrund.
Die Humusmenge ist mit 3 bis 6 Prozent gar nicht so hoch, aber sehr fein verteilt und sehr intensiv belebt. Sie hat eine Unzahl von Poren und Wühlgängen von Bodentieren, was die typische lockere Lagerung der Bodensubstrates bewirkt.
In diesen Grobporen kann Regenwasser schnell versickern und die sauerstoffhaltige Luft wieder nachströmen. Gleichzeitig wird in den feineren Poren viel Wasser gespeichert, das den Pflanzen zum Wachstum dient.
Mit welchen Problemen kämpfen die Ackerbauern in der Ukraine?
Der grösste Teil der landwirtschaftlichen Mitarbeiter hat die Landwirtschafts-Betriebe verlassen und kämpft im Krieg.
Mit den Treibstoff-Vorräten wurden die ukrainischen Panzer und Militär-LKW betankt – oder die Tanks wurden in Brand gesteckt, damit der Diesel nicht von der russischen Armee gestohlen werden kann.
Selbst wenn noch Diesel vorhanden wäre – es gibt keine Ersatzteile für die Landtechnik, weil Lieferungen in die Ukraine nur unter Lebensgefahr möglich sind. Traktoren und Mähdrescher stehen nutzlos auf den Betrieben.
Die Aussaat von Sommerweizen beginnt in der Ukraine Mitte März. Andere Hauptkulturen werden im April gesät, Zuckerrüben im Mai.
Weil der Winter dieses Jahr ungewöhnlich kurz und warm war, hätte die Aussaat 2021 also zumindest in den südlichen Regionen der Ukraine schon beginnen sollen. Daraus wird aber nichts, weil es an Personal, Treibstoff, Dünger und Pflanzenschutzmitteln fehlt. Und auf den Feldern liegen Blindgänger von Artillerie und Raketen sowie Minen, welche die Feldarbeit noch Jahre nach einem Ende der Kämpfe zu einem tödlichen Job machen.
[IMG 2] Die deutschen Agrarökonomen Torben Reelfs und Tim Nandelstädt sind 2009 in die Ukraine ausgewandert. Sie bewirtschaften südlich der Stadt Lviv 1900 Hektar mit Winterweizen, Wintergerste, Raps, Zuckerrüben, Körnermais und Soja.
Reelfs und Nandelstädt liessen nach Kriegsbeginn zuerst einmal 120 Tonnen Weizen zu Mehl verarbeiten und spendeten dieses Hilfsorganisationen in ihrer Region.
Als den deutschen Landwirten die ersten russischen Marschflugkörper über die Köpfe flogen, nahmen sie zuerst ihre RTK-Empfänger zur GPS-Korrektur der Landtechnik ausser Betrieb, damit sie nicht vom russischen Militär genutzt werden können.
Dann übergaben sie den Betrieb ihren Mitarbeitern und flüchteten aus dem Land, berichtet das Magazin «agrar heute».
Mit welchen Problemen kämpfen die Tierhalter in der Ukraine?
Vom Krieg betroffen sind aber auch die ukrainischen Tierhalter. 3 Millionen Rinder werden in der Ukraine gehalten, davon 1,8 Millionen Kühe. Daneben 6 Millionen Schweine und 200 Millionen Hühner.
Viele Nutztier-Bestände sind von den Verarbeitungsbetrieben abgeschnitten, die Verarbeiter wiederum von den Verbrauchern und Märkten.
Die wichtigsten Strassen und Brücken sind in vielen Regionen der Ukraine zerstört. Entweder von den russischen Bomben – oder von der ukrainischen Armee, um die Invasoren aufzuhalten.
Die ukrainischen Landwirte geben deshalb der verbliebenen Bevölkerung und der ukrainischen Armee die Rohmilch und schon verarbeitete Milchprodukte kostenlos ab.
Die meisten Landwirte wissen aber nicht, wie sie ihren Tierbestand in den nächsten Wochen füttern sollen.
[IMG 3] Der 2002 aus den Niederlanden eingewanderte Landwirt Kees Huizinga bewirtschaftet südlich von Kiew einen Betrieb mit 15 000 Hektar Ackerland, davon 350 Hektar Gemüse. In seinen Ställen stehen 2000 Milchkühe und 450 Sauen. Normalerweise beschäftigt er etwa 400 Mitarbeiter, viele davon kämpfen jetzt aber in der ukrainischen Armee.
«Wir haben noch Strom und können zum Glück noch melken», erklärt er auf seinem Twitter-Account. Einen Teil der Milch gibt er der ukrainischen Armee ab. Auch Zucker, Getreide und Zwiebeln hat der Betrieb bereits zur Verfügung gestellt, ebenso wie Autos und Diesel für lokale Armee-Einheiten.
Einen Vorrat an Stroh, Heu und Mais hat Kees Huizinga für seinen Betrieb in weiser Voraussicht in den letzten Monaten angelegt. Dieser Vorrat sollte für einige Monate reichen. «Aber das Sojaschrot für die Schweine reicht nur noch ein paar Wochen.» Was er dann tun soll, weiss er nicht.
Das Problem kann wohl nur mit grossflächigen Notschlachtungen gelöst werden, für die aber kriegsbedingt das Personal und die Infrastruktur der grossen Schlachthöfe fehlen.
Und dann gibt es in der ukrainischen Landwirtschaft Tiere, die eigentlich nicht zur Schlachtung vorgesehen sind. Der Agrarjournalist Juri Michailow aus Kiew berichtet, dass es auf einer Pferdezucht, die er persönlich kennt, schon jetzt kein Futter mehr gibt und die Pferde deshalb am verhungern sind.
Die russische Armee zerbombt die vor- und nachgelagerten Stufen der ukrainischen Landwirtschaft
[IMG 5] Das Unternehmen Cherkasy Azot – mit einer Produktionskapazität von jährlich 3 Millionen Tonnen Stickstoffdünger und 6000 Mitarbeitern einer der grössten ukrainischen Düngerhersteller – hat seinen Hauptbetrieb südlich von Kiew eingestellt.
Auch die Produktionsanlage im Hafen von Odessa mit einer Kapazität von 1 Million Tonnen Ammoniak und 600'000 Tonnen Harnstoff wurde geschlossen. Nichts geht mehr bei Cherkasy Azot.
Aber selbst dann, wenn die ukrainische Landwirtschaft in den Jahren nach dem erhofften Kriegs-Ende wieder aufgebaut wird – die Silos und Verlade-Einrichtungen in den Häfen am Asowschen Meer (Mariupol) und am Schwarzen Meer (Odessa, Mykolajiw und Cherson) sind entweder zerstört oder blockiert.
Und auch die Milch verarbeitende Industrie steht still: Der Produktionsstandort des Schweizer Glasverpackungs-Herstellers Vetropack in Gostomel nördlich von Kiew ist durch russische Raketen stark beschädigt worden.
«Nur weil die Produktion bei Kriegsbeginn aus Sicherheitsgründen eingestellt wurde, hat es keine Verletzten gegeben», erklärte Johann Reiter, CEO der Vetropack Holding AG.
Teile der Produktion sind so schwer beschädigt, dass eine Wiederaufnahme der Produktion erst nach umfangreichen Reparaturarbeiten wieder möglich sein wird.
Welche Auswirkungen hat der Krieg in der Ukraine auf die Schweizer Landwirtschaft?
Der Krieg in der Ukraine hat für die Schweizer Landwirte weniger Konsequenzen als für ihre Kollegen in anderen Ländern, die stärker von ukrainischen Importen abhängig sind.
Nur die Preiserhöhungen beim Treibstoff für die ganze Landtechnik, von den Traktoren bis zum Mähdrescher, spüren die Schweizer Bauernfamilien direkt im Portemonnaie.
Seit Monaten ist die weltweite Nachfrage nach Öl grösser als die Produktivitäts-Kapazität, was den Ölpreis in die Höhe treibt. Mit Ausbruch des Ukraine-Krieges hat sich die Situation nun noch zugespitzt.
«Wir erwarten Benzin- und Diesel-Preise von zwei Franken und mehr pro Liter – und das wird wohl längere Zeit so bleiben», sagt Daniel Hofer, Präsident von Avenergy (früher Erdölvereinigung). «Der Ukraine-Krieg kommt uns alle teuer zu stehen.»
Wie stark trifft der Krieg in der Ukraine die Schweiz?
Gemäss Réservesuisse, dem nationalen Pflichtlagerhalter, importierte die Schweiz 2021 aus der Ukraine:
Tonnen | Produkt | Import-Anteil |
3446 Tonnen | Sonnenblumen-Ölkuchen | 13 % |
2840 Tonnen | Sojabohnen zur Ölgewinnung für Futterzwecke | 38 % |
1656 Tonnen | Soja-Ölkuchen | 0,67 % |
27 Tonnen | Sojaöl für Futterzwecke | 0,4 % |
22 Tonnen | Buchweizen für Futterzwecke | 81 % |
3 Tonnen | Hafer für Futterzwecke | 0,01 % |
33 Tonnen | Sonnenblumenöl für Futterzwecke | 45 % |
Für Ernährungszwecke importiert die Schweiz kein Getreide aus der Ukraine, dasselbe gilt auch für Getreide aus Russland. Die Schweizer Landwirtschaft und die Bevölkerung trifft der erwartete totale Zusammenbruch der ukrainischen Landwirtschaft damit zumindest nicht unmittelbar.
Was die Schweizer Konsumenten relativ gut verschmerzen können – nämlich moderat höhere Nahrungsmittelpreise – kann aber in den armen und politisch instabilen Ländern in Nordafrika, im Nahen Osten und auf dem Indischen Subkontinent zu einer «Brot-Revolution» führen wie in Ägypten 2011. Daraus kann eine riesige Flüchtlingswelle entstehen, die nach Europa überschwappt.
Wie stark trifft der Krieg in der Ukraine die Welt?
Mit einem Jahres-Export von 60 Millionen Tonnen Getreide ist die Ukraine der drittgrösste Getreide-Exporteur auf dem Weltmarkt und trägt damit massgeblich zur Ernährungssicherheit der Weltbevölkerung bei. Je nach Quelle sind weltweit bis 1 Milliarde Menschen von diesen Lieferungen abhängig, die meisten davon im Nahen Osten und Nordafrika.
Der komplette Stopp der ukrainischen Landwirtschaft, die Unterbrechung des Schiffsverkehrs am Schwarzen Meer und die Wirtschaftssanktionen gegen Russland verknappen damit die weltweiten Handelsmengen, vor allem von Weizen, Mais und Gerste.
«Der Anstieg vom Weizenpreis auf über 500 Dollar je Tonne wird schon bald zu einer Zunahme von Hungersnöten auf dem Planeten führen, insbesondere in armen Ländern», sagt Andriy Yarmak, Ökonom in der Investitionsabteilung der UNO-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO in einem Interview mit der ukrainischen Nachrichtenagentur Interfax.
Umgekehrt fehlen durch den Krieg von Russland gegen die Ukraine jetzt schon innerhalb der EU zunehmend LKW-Fahrer – und später auch die Erntehelfer. Viele Erntehelfer auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz stammen aus der Ukraine. Dass ukrainische LKW-Fahrer und Erntehelfer kriegsbedingt zum Wehrdienst mobilisiert wurden, setzt die Lieferketten länderübergreifend unter Druck.