Die Schweizer Agrarpolitik ist für viele LandwirtInnen ein Buch mit sieben Siegeln. Wer ausser den wenigen Insidern versteht schon zum Beispiel die vertrackten Mechanismen der Milchpolitik und Milchwirtschaft?
Das nötige Basiswissen zur Agrarpolitik vermittelt das Fachbuch «Einführung in die Schweizer Agrarpolitik» von Robert Huber. Der Autor ordnet in diesem neuen Standardwerk agrarpolitische Zusammenhänge aus einer übergeordneten Perspektive ein und beurteilt kritisch die Wirkungsweisen von agrarpolitischen Massnahmen und Instrumenten im Kontext der Schweizer Agrarpolitik.
Robert Huber lehrt an der ETH Zürich Agrarökonomie und Agrarpolitik. Er ist Mitbegründer vom Agrarpolitik-Blog, in dem wissenschaftliche Ergebnisse präsentiert werden (mehr über Robert Huber im Kästchen am Ende dieses Textes).
Wie ist die «Einführung in die Schweizer Agrarpolitik» aufgebaut?
Die elf Kapitel der «Einführung in die Schweizer Agrarpolitik» von Robert Huber lassen sich in fünf grundlegende Teile einordnen:
- Einordnung der Agrarpolitik im internationalen Kontext
- Theoretische und konzeptionelle Grundlagen, Massnahmen und Instrumente der Agrarpolitik
- Die Schweizer Agrarpolitik
- Die Institutionen und Prozesse der Agrarpolitik
- Die Agrarpolitik der Zukunft
Robert Huber beschreibt die theoretischen und konzeptionellen Grundlagen der Agrarpolitik. Diese Grundlagen vertieft er mit Blick auf internationale Entwicklungen, die Geschichte der Agrarpolitik und die Schweizer Agrargesetzgebung.
Im ersten Teil dieser Rezension besprechen wir in kürzerer Form die grundsätzlichen Buch-Kapitel zur Agrarpolitik. Im zweiten Teil der Besprechung gehen wir dafür ausführlicher auf die Kapitel zur Entwicklung der Schweizer Agrarpolitik seit den 1990er-Jahren ein.
Wieso braucht es überhaupt eine Agrarpolitik?
Die «Produktionsgrundlagen» der Landwirte sind der Boden und das Wasser, von diesen natürlichen Ressourcen sind sie abhängig. Die Bäuerinnen und Bauern sind aber seit jeher auch von der nicht landwirtschaftlichen Gesellschaft abhängig, die sich von den Agrarprodukten ernährt.
«Die nicht landwirtschaftliche Bevölkerung versucht schon seit der Antike die Landwirtschaft zu regeln, zu dominieren oder auszubeuten», stellt der Autor Robert Huber fest. Als Ausgleich zu den Regelungen werden weltweit jährlich über 500 Milliarden Franken für die Unterstützung der Landwirtschaft ausgegeben.
Die Schweiz wiederum gehört mit über jährlich 4 Milliarden Franken zu den Ländern, welche die Landwirtschaft (in der Relation zur Bevölkerungszahl) weltweit am stärksten unterstützen. Dazu kommt die Stärkung der Landwirtschaft über Zölle und andere Einfuhrbeschränkungen.
«Die zentrale Frage ist also nicht, ob man den Agrarsektor regeln soll», erklärt Robert Huber, «sondern wie man den Agrarsektor regelt».
Was ist eigentlich Agrarpolitik?
In der Schweiz wird die Landwirtschaft auf Bundesebene gesteuert. Die Kantone können nur ergänzend eingreifen und die Gemeinden haben gar nichts zu melden.
Agrarpolitik wird in Bern gemacht – und in Brugg AG, wo der Schweizer Bauernverband seinen Sitz hat. Und da ist es nach Beobachtung von Robert Huber interessant, wie unterschiedlich das Bundesamt für Landwirtschaft BLW und der Schweizer Bauernverband SBV die Agrarpolitik definieren:
- Bundesamt für Landwirtschaft BLW: «Mit der Agrarpolitik schafft der Bund geeignete Rahmenbedingungen, dass die Schweizer Bauernfamilien ihre Aufgaben für die Gesellschaft erfüllen können.»
- Schweizer Bauernverband SBV: «Die Agrarpolitik regelt die wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Verhältnisse der Landwirtschaft. Die tragenden Säulen der Agrarpolitik sind die Markt-, Sozial- und Strukturpolitik.»
Egal ob Bundesamt oder Bauernverband, Agrarpolitik ist immer Wirtschaftspolitik, also die Regelung und Steuerung der Landwirtschaft mit wirtschaftspolitischen Massnahmen. Und diese haben immer auch Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesellschaft – was die Sache nicht einfacher macht.
Denn in diesem Spannungsfeld gibt es ein gemäss dem Autor ein «Werturteilsproblem»: Wissenschaft, landwirtschaftliche Praxis und politische oder gesellschaftliche Werturteile (ob etwas wünschenswert, gut, gerecht, akzeptabel oder abzulehnen ist) liegen oft weit auseinander.
Eine «Auslegeordnung» der Schweizer Agrarpolitik
Nach der Einordnung der Agrarpolitik in den internationalen Kontext sowie einer Erklärung der theoretischen und konzeptionellen Grundlagen, Massnahmen und Instrumente der Agrarpolitik macht Robert Huber in seinem Buch «Einführung in die Schweizer Agrarpolitik» eine politische «Auslegeordnung».
Zuerst einmal erzählt er die historische Entwicklung der Agrarpolitik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in vier historischen «Zeitfenstern»:
- Von 1900 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1945
- Nach 1945 bis Anfang der 1990er-Jahre: Staatliche Ordnung
- Ab den 1990er-Jahren: Agrarpolitik für eine multifunktionale Landwirtschaft
- Ab 2010: Bedeutung der Volksinitiativen in der Entwicklung der Agrarpolitik
Damit macht der Autor die historische Entwicklung der Schweizer Agrarpolitik mit ihren unterschiedlichen Schwerpunkten und Zielsystemen nachvollziehbar. Uns interessiert im ausführlicheren Teil dieser Besprechung vor allem das «Zeitfenster» von den 1990er-Jahren bis heute.
Die Entwicklung der Schweizer Agrarpolitik seit 1990 bis heute
Je intensiver die Schweizer Landwirtschaft produzierte, desto mehr Überschüsse gab es. Der Bund zahlte Ende der 1980er-Jahre Milliarden Franken für die Überschussverwertung (Butterberg, Milchschwemme etc.).
Gleichzeitig sensibilisierten Lebensmittelskandale die Konsumenten und international wurde ein Ende der produktionsorientierten Stützung der Landwirtschaft gefordert, also neue Regeln für die Agrarpolitik.
Nach mehreren eidgenössische Abstimmungen zur Landwirtschaft forderte der Bund anfangs der 1990er-Jahre im 7. Landwirtschaftsbericht eine fundamentale Neuorientierung der Schweizer Landwirtschaftspolitik. Mit einer Trennung von Preis- und Einkommens-Politik sollte das Einkommen in der Landwirtschaft nicht mehr über möglichst hohe Produzentenpreise gelöst werden, sondern über produktionsunabhängige Direktzahlungen.
Diese 1992 eingeführten Direktzahlungen richten sich an einer multifunktionalen Landwirtschaft aus. Die Schweizer Landwirte sollen neu beitragen:
- zu einer sicheren Versorgung der Bevölkerung
- zur Pflege der Kulturlandschaft und Erhaltung der natürlichen Ressourcen sowie
- zur dezentralen Besiedlung
Diese Ziele wurden 1996 mittels einer Volksabstimmung in Artikel 104 der Schweizer Bundesverfassung verankert.
Artikel 104 der Bundesverfassung (zur Schweizer Landwirtschaft)
Die Grundlage der Schweizer Agrargesetzgebung ist Artikel 104 der Bundesverfassung. Im September 2017 kam nach einer Volksabstimmung Artikel 104a dazu. Dieser erweitert die Ziele der Schweizer Agrarpolitik auf den Ernährungssektor, also auf Aspekte der gesamten Wertschöpfungskette (ressourceneffiziente Lebensmittelproduktion) und der Konsumenten (ressourcenschonender Umgang mit Lebensmitteln).
Basierend auf den Zielen und Leitplanken in diesen beiden Artikeln wird die Schweizer Agrarpolitik konkretisiert im:
– Bundesgesetz über die Landwirtschaft (Landwirtschaftsgesetz, LwG)
– Bundesgesetz über das bäuerliche Bodenrecht (BGBB)
– Landwirtschaftliches Pachtgesetz (LPG) sowie im
– Raumplanungsgesetz, Umweltschutzgesetz (USG), Gewässerschutzgesetz (GSchG)und Tierschutzgesetz (TSchG)
Die Schweizer Agarpolitik wird alle vier Jahre mit einer AP neu justiert
Gemäss dem oben zitierten Artikel 104 der Bundesverfassung stimmen Nationalrat und Ständerat alle vier Jahre über den (Direkt-)Zahlungsrahmen ab. So kommt es alle vier Jahre zu einer Agrarreform-Etappe, die verkürzt als Agrarpolitik (AP) bezeichnet wird: AP02, AP07, AP11, AP14-17, AP18-21 und AP22+.
In seinem Fachbuch macht Robert Huber eine saubere Auslegeordnung der Reformen mit dem Kürzel AP, das bei Landwirten etwa so beliebt ist wie Mortellaro im Stall oder der Kartoffelkäfer auf dem Acker:
Die AP02 löste parastaatliche Unternehmen wie die Eidgenössische Getreideverwaltung (EGV) oder die Käseunion für die Marktbereinigung auf. Danach wurden die Zölle mit der EU für Käse schrittweise abgebaut. Mit der AP07 wurden die Milch-Kontingentierung und die Versteigerung der Fleischimport-Kontingente aufgehoben.
Die AP11 brachte die Abschaffung der Export-Subventionen, eine starke Reduktion der Marktstützung und eine Umlagerung in Direktzahlungen, dazu eine Zollsenkung bei Futtermitteln und ein Ressourcenprogramm
Die AP14-17 richtete die Schweizer Landwirtschaft mit der Weiterentwicklung des Direktzahlungssystems (WDZ) stringenter auf die Erbringung von öffentlichen Gütern aus. Gleichzeitig wurden die Bemühungen zur Erhöhung der Wertschöpfung im Rahmen der sogenannten Qualitätsstrategie weitergeführt.
Und als letzte Reform wollte die AP22+ eine Weiterentwicklung der Agrarpolitik zum Unternehmertum der Betriebe, zur Wettbewerbsfähigkeit und zum Schutz der natürlichen Ressourcen. In heftigen politischen Auseinandersetzungen wurde sie aber auf den kleinsten gemeinsamen Nenner von Landwirtschaft, Umweltverbänden, Wirtschaft und Verwaltung reduziert – und dann vom Parlament versenkt.
Bedeutung der Volksinitiativen für die Entwicklung der Schweizer Agrarpolitik
In den letzten Kapiteln geht Rober Huber auf die unzähligen Referenden, Volksinitiativen und indirekten Gegenvorschläge ein, welche zu Abstimmungen für Gesetzes- oder Verfassungsänderungen zur Landwirtschaft führten.
Bis Ende der 1980er-Jahre kamen diese in grossen Abständen, dann krachte es aber im Gebälk: Seit 1989 wurden ein Dutzend Volksinitiativen zur Landwirtschaft lanciert, die protektionistische Massnahmen verhindern und negative Auswirkungen auf Gesundheit, Tierwohl und Umwelt reduzieren sollten:
- 1989 Kleinbauern-Initiative I
- 1998 Keine GMO’s in der Schweiz
- 1998 Kleinbauern-Initiative II
- 2005 Gentechfrei-Initiative: GVO-Moratorium von 5 Jahren in der Landwirtschaft
- 2016 Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln
- 2018 Fair Food: Ökologische und soziale Standards für Importe
- 2018 Ernährungssouveränität: Förderung der Bauern durch den Staat
- 2018 Hornkuh-Initiative: Direktzahlungen für behorntes Vieh
- 2021 Trinkwasser-Initiative: Für sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung – Keine Subventionen für den Pestizid- und den prophylaktischen Antibiotika-Einsatz
- 2021 Pestizid-Initiative: Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide
Mit Ausnahme der Gentechfrei-Initiative wurden alle diese Initiativen von den Stimmbürgern verworfen. «Weil aber die darin formulierten gesellschaftlichen Ansprüche zumindest teilweise in der Gesetzgebung aufgenommen wurden, entwickelte sich die Schweizer Agrarpolitik kontinuierlich weiter», erklärt Robert Huber.
Wie sieht die Schweizer Agrarpolitik der Zukunft aus?
Nachdem die AP22+ zum Symbol einer gescheiterten Agrarpolitik wurde, erklärt Robert Huber, im Schluss-Kapitel, gehen Bundesrat und Verwaltung das dadurch entstandene agrarpolitische Vakuum auf drei politischen Ebenen an:
- Der Bundesrat führt die im Parlament weniger umstrittenen Elemente der Agrarpolitik über den Verordnungsweg ein, zum Beispiel die Verbesserung der sozialen Absicherung der Bäuerinnen.
- Das Parlament definiert basierend auf einer parlamentarischen Initiative einen Absenkpfad für Pestizide und Nährstoffverluste, der die Belastung von Gewässern reduziert. Erste Massnahmen dazu sollen 2023 umgesetzt werden.
- Die Verwaltung erarbeitet als Grundlage für die nächste Agrarreform-Etappe eine «Auslegeordnung». Auf deren Basis kann das Parlament ab 2023 über eine AP25+ diskutieren.
Die «Einführung in die Schweizer Agrarpolitik» schaut aber noch weiter voraus, der Zeithorizont erstreckt sich über 20 Jahre. «In dieser Zeit nimmt die gesellschaftliche Nachfrage nach sozialen und ökologischen Leistungen der Landwirtschaft zu», glaubt Robert Huber, «gleichzeitig wird die Produktion von Nahrungsmitteln auch in der Zukunft die prioritäre Funktion der Landwirtschaft bleiben.»
Mit der Digitalisierung, neuen Technologien und dem Klimawandel werde «die Agrarpolitik neu gedacht». Die Agrarpolitik könnte als integrale Ernährungspolitik die ökonomischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen integral steuern. Um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, müsse die Schweizer Landwirtschaft widerstandsfähig sein, sich anpassen und verändern.
«Einführung in die Schweizer Agrarpolitik» von Robert Huber
Vor jedem der elf Kapitel in der «Einführung in die Schweizer Agrarpolitik» von Robert Huber erklärt ein «Readers’ Guide» kurz das Thema und dessen Kontext in der Agrarpolitik. Nach jedem Kapitel werden die wichtigsten Aspekte zusammengefasst. So können die einzelnen Kapitel unabhängig voneinander gelesen werden.
Zudem enthält das Buch ein Glossar, in dem die wichtigsten Begriffe und Definitionen erklärt sind.
Robert Huber lehrt an der ETH Zürich seit 2016 Agrarökonomie und Agrarpolitik. Er ist Mitbegründer vom Agrarpolitik-Blog, in dem wissenschaftliche Ergebnisse präsentiert werden.
«Einführung in die Schweizer Agrarpolitik»
Robert Huber
vdf Hochschulverlag, 2022
260 Seiten, 42 Franken
ISBN 978-3-7281-4058-6
Als PDF kostenlos zum Download:
«Einführung in die Schweizer Agrarpolitik»