Der Wolf scheint in der Schweiz omnipräsent: In den Bergen, in den Köpfen der Menschen und in den Medien. Es ist Alpsaison und wöchentlich wird von neuen Rissen berichtet. Nach dem zweiten Angriff auf eine Mutterkuh durch das Beverin-Rudel in Graubünden werden Rufe laut, die nach einer schnellen Regulierung dieses Rudels in MIttelbünden verlangen. Es sei eine neue Eskalationsstufe erreicht, schreibt etwa der Bündner Bauernverband

Obwohl Rinder-Risse eine Seltenheit sind, ist die Überraschung nicht allzu gross

Sie seien indes nicht sonderlich überrascht über die Angriffe, sagt David Gerke, Geschäftsführer Gruppe Wolf Schweiz: «Wir haben bereits 2007 auf das Risiko möglicher Rinder-Risse hingewiesen. Insbesondere frisch geborene Kälber und Jungvieh ohne Begleitung ihrer Mütter sind einer gewissen Gefährdung durch Wölfe ausgesetzt.»

Nun hat es die ersten Rinder erwischt – und es handelt sich um erwachsene Tiere, um Mutterkühe, bei denen das Risiko als gering eingestuft wird. David Gerke spricht trotzdem nicht von einer Eskalation und weist auf die Populationsgrössen hin: «Dass es nun erst nach 27 Jahren Wolfspräsenz, bei einem Bestand von 1.5 Millionen Rinderartigen und rund 150 Wölfen, erstmalig zu zwei Rissen an Kühen gekommen ist, bestätigt die Seltenheit solcher Angriffe.»

Der Abschuss als einzige Lösung

Im Fall des Beverin-Rudels sieht aber auch David Gerke den Abschuss als einzige Lösung: «Weil die Schäden das tragbare Mass überschreiten und keine Änderung des Verhaltens vom Leitwolf M92 zu erwarten ist, sehen wir keine zielführenden Alternativen mehr zum Abschuss.»

Mitte Juli 2022 schrieben die Gruppe Wolf Schweiz, Pro Natura und der WWF  in einer gemeinsamen Medienmitteilung, dass sie als Naturschutzorganisationen ein rasches und zielgerichtetes Handeln durch Abschüsse von Jungwölfen unterstützen. Auch ein Abschuss des Leitwolfes M92 werde befürwortet.

Bund bewilligt zwei Abschüsse

Nach den zwei Rissen von Mutterkühen kann gemäss Jagdverordnung der Kanton Graubünden beim Bundesamt für Umwelt BAFU ein Gesuch einreichen für eine Regulierung des Beverin-Rudels. Diesem Gesuch hat das BAFU bereits am 14. Juli mündlich zugestimmt. Am 22. Juli hat es dann auch die schriftliche Zustimmung erteilt.

Zum Abschuss freigegeben werden bis auf Weiteres zwei Jungwölfe des Beverin-Rudels. Sobald bekannt ist, wie viel Nachwuchs das Rudel dieses Jahr hatte, wird die Zahl der zum Abschuss freigegebenen Wölfe auf maximal die Hälfte der in diesem Jahr geborenen Jungtiere angehoben.

Innerhalb dieser Quote könne der Kanton Graubünden im Winter auch den Abschuss des Wolfsrüden M92 vorsehen, so das BAFU.

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Soziale Struktur des Rudels brechen

Der Kanton Graubünden hat bereits vor einem Jahr den Abschuss des Leitwolfes gefordert. «Nun ist passiert, was wir schon damals befürchteten: Das Rudel dehnt die Jagd auf grosse Nutztiere aus», sagt Arno Puorger vom Amt für Jagd und Fischerei des Kantons Graubünden. Es gehe jetzt darum, die beiden Jungwölfe abzuschiessen.

Langfristig sehen sie die einzige Lösung darin, das Beverin-Rudel aufzulösen, erklärt Puorger: «Wir wollen mindestens das Vatertier schiessen. Damit sollten die sozialen Strukturen und auch das Rudel zusammenbrechen.» 

Bei der Regulierung des Beverin-Rudels gehe es nicht um die reine Dezimierung des Bestands. Die Anzahl Wölfe sei nicht unbedingt ausschlaggebend, es gehe vielmehr um das problematische Verhalten des Vatertiers. «Wenngleich eine grössere Anzahl Wölfe logischerweise erfolgversprechend sein kann beim Angriff und der Überwindung von Herdenschutzmassnahmen», räumt Puorger ein. 

Wie ist die Situation am Piz Beverin?
Wie tickt das Wolfsrudel, das immer wieder auffällig wird? Arno Puorger, Kanton Graubünden, und David Gerke, Gruppe Wolf Schweiz, geben Antworten.

Was ist beim Beverin-Rudel falsch gelaufen? Weshalb eskaliert es dort regelmässig?
Arno Puorger: Das ist das Ergebnis einer mehrjährigen Entwicklung. Zu Beginn, als es noch wenig Herdenschutz auf den Alpen gab, konnte der Einzelwolf und später auch das Rudel erfolgreich Nutztiere jagen. Mit der Zeit haben die Wölfe gelernt, mit Herdenschutzmassnahmen umzugehen. Ein natürlicher Lernprozess. Und weil sie Erfolg haben, werden die Wölfe auch nicht damit aufhören. Auch das ist natürlich und zudem besorgniserregend. Denn dieses Wissen wird an die nächste Generation weitergegeben und somit auch verbreitet.

David Gerke: Das Beverin-Rudel ist wohl aus mehreren Gründen speziell, nicht alle davon sind uns bekannt. Einen erheblichen Einfluss hatte, dass der heute als problematisch geltende Wolfsrüde M92 im ersten Jahr seiner Präsenz im Gebiet (2018, das Rudel gründete er 2019) zahlreiche ungeschützte Nutztiere vorfand. In den Folgejahren wurden zwar Herdenschutzmassnahmen ergriffen, aber die Herdenführung war nicht immer ausreichend kompakt, so dass es zu weiteren Rissen kam. Dadurch lernte er Schritt für Schritt, wie man trotz Herdenschutz Schafe reissen kann. Und er hat dieses Lernverhalten dann auf Grossvieh weiterentwickelt. Die erfolgten Regulierungsabschüsse 2019 und 2021 führten offenbar nicht zum erwünschten Lernverhalten, weshalb durchaus hinterfragt werden darf, ob die Regulierung überhaupt eine zielführende Massnahme zur Verhinderung von Schäden ist.  

Ab und zu liest man auch von Wanderern oder ÄlplerInnen, denen Wölfe zu nahe kamen. Weshalb verlieren einige Wölfe die Scheu vor Menschen?
Gerke: Wölfe sind lernfähig und kreativ, Jungwölfe sind nicht sonderlich scheu. Damit können sie immer wieder lernen, dass es in der Nähe von Menschen auch Futter gibt. Solche Wölfe verlieren dann die Scheu, anstatt dass sie sie erlernen.  

Wie steht es um das Nahrungsangebot für die Wölfe? Greifen sie Nutztiere an, weil sie nicht genügend Wild erlegen können? Oder greifen sie an, weil die Nutztiere praktischer zu jagen sind?
Puorger: Die Region um den Piz Beverin ist ideal für das Schalenwild. Im Tal ist das Nahrungsangebot auch im Winter vergleichsweise gut. Am knappen Wildtierangebot kann es also nicht liegen, dass die Wölfe Nutztiere reissen. Es ist für das Raubtier einfacher, die Nutztiere zu jagen. Die Erfolgserlebnisse tragen sicherlich ihren Teil dazu bei, dass es immer wieder zu Rissen kommt.

Gerke: Die Wildbestände sind mehr als genug hoch, um die Wolfsrudel ernähren zu können. Definitiv ernährt sich auch das Beverin-Rudel grösstenteils von Wild, aber im Sommer scheinen Nutztiere attraktiv zu sein. Darauf basiert das Prinzip des Herdenschutzes: Nutztiere müssen als Beute weniger attraktiv gemacht werden als Wildtiere. Im vorliegenden Fall könnte sein, dass das Wild im Gebiet sehr gut gelernt hat, mit dem Wolf umzugehen und sich im Gebiet verteilt, womit die Jagd für den Wolf aufwendiger wird. 

Welchen Einfluss hat der Wolf auf die Wildtier-Populationen?
Gerke: Der Einfluss des Wolfes auf das Wild ist grundsätzlich sehr positiv einzuschätzen: Die erwähnte bessere Verteilung im Lebensraum ist ebenso positiv wie eine potentielle Senkung der Wildbestände. Tiefere Wildbestände sind übrigens auch für die Landwirtschaft von Vorteil (tiefere Ernteverluste durch Wildfrass, gesenktes Seuchenrisiko wie Tuberkulose, etc.).