Kurz & bündig
- Schafhirtin Sarah Müri schützt ihre Schafe mit ihren Schutzhunden und im Nachtpferch.
- Die Arbeit ist anstrengend und der Wolfsdruck erfordert zusätzliche Arbeitsstunden.
- Gleichzeitig fehlen schweizweit Fachpersonen auf den Schafalpen – eine Herausforderung für den Herdenschutz.
Wenn Sarah Müri erzählt, wird klar: Der Herdenschutz ist in erster Linie eine anstrengende Arbeit, die nie endet. Sie hirtet 220 Schafe im Oberwallis. 100 Schafe sind ihre eigenen, die restlichen hat sie von ihrer Winterweide im Baselbiet mitgenommen.
Sarah Müri ist seit sechs Sommern als Schafhirtin in den Alpen unterwegs. Unterstützt wird sie von drei Hütehunden und vier Herdenschutzhunden.
Sie sei von Wolfsrudeln umgeben, erklärt Müri. Dementsprechend macht sie sich Sorgen um ihre Schafe und überlegte sich im Vorhinein gut, wie sie die Zaunarbeiten im Sommer effizient und sicher durchführen könnte. «Anfangs Saison liess ich mir dann extra Netze an einen Punkt fliegen, damit ich nicht weit tragen musste», erzählt Müri.
«Der Alltag brach herein»
Doch dann passierte, was Sarah Müri so beschreibt: «Der Alltag brach herein.» Sie merkte, dass sie nur zwei Netze auf einmal durch das unwegsame Gelände tragen kann und dass der Aufwand trotzdem noch gross bleibt. [IMG 3]
Die Netze dienen dazu, den Schafen künstliche Grenzen zu setzen, da natürliche Schranken wie Felswände fehlen.
Müri unterteilt die Alp in Sektoren, um die Schafe besser führen zu können und um die Vegetation vor Trittschäden auf grosser Fläche zu schützen. Denn bei der diesjährigen Trockenheit würde das Gras hinter der Herde her sofort dürr werden.
Alpspiegel
Sarah Müri, Wallis
Höhe der Alp: 2100 bis 2700 m ü. M.
Normalstösse: max. 27
Arbeitskräfte: eine Hirtin, freiwillige Aushilfen
Hütehunde halten tagsüber die Herde zusammen
Die Schafe sind tagsüber nicht komplett eingezäunt. Nebst den Netzen als Grenze werden sie von Hütehunden bewacht und von Herdenschutzhunden beschützt. Abends treibt Müri die Herde in den Nachtpferch nahe der Hütte, um sie vor dem Wolf zu schützen. Den Nachtpferch muss sie wöchentlich umzäunen.
Trockenheit und Wolfsdruck führen dazu, dass Sarah Müri oft mit Zaunarbeiten beschäftigt ist. Das raubt Zeit, die sie für die Versorgung und das Management der Herde auch gut brauchen könnte.
Längerfristig denke sie über mehr Zaunmaterial nach, sagt die Hirtin: «Zusätzliche Netze würden erlauben, dass ich mehrere Depots anlege. So müsste ich das Material weniger weit schleppen.»
Wolf bereitet Kopfzerbrechen und schlaflose Nächte
Neben der körperlichen Belastung ist der Wolf auch eine geistige Belastung: «Nachts liege ich wach und überlege mir Strategien zur Herdenführung», erzählt Sarah Müri.
Manchmal überkomme sie das Gefühl von Machtlosigkeit: «In der Praxis, im steilen Berggelände, kann ich noch so viel arbeiten und schützen – es kann schnell zu einer Lücke kommen.» Wenn der Wolf diese findet und nutzt, sei die ganze Arbeit umsonst gewesen.
Innerhalb kürzester Zeit müsse die entsprechende Weide aufgegeben werden und eine Alternative parat stehen, erklärt Müri ihre Strategie. Zu gross ist die Angst, das einmal erfolgreiche Raubtier komme immer wieder auf gleichem Weg zurück.
Es wurden zusätzliche 5,7 Millionen Franken gesprochen
Was Müri schildert, ist auf anderen Alpen ebenfalls anzutreffen. Der Schutz der Herde vor dem Wolf bringt einen beträchtlichen Mehraufwand mit sich. Dazu braucht es Ressourcen, finanzielle und personelle.
Finanzielle Ressourcen wurden gesprochen: Vom Bund wurden für diesen Alpsommer zusätzliche 5,7 Millionen Franken für Sofortmassnahmen bewilligt. Insgesamt stehen damit rund 9 Millionen Franken zur Verfügung. Unter anderem kann Geld für die Haltung von Herdenschutzhunden, für Zaunmaterial und für Hilfspersonal beantragt werden.
Dieses Geld werde womöglich nicht abgeholt, schrieb die «Aargauer Zeitung» am 21. Juli 2022. Bis jetzt wurden jedenfalls nur 5 Millionen beansprucht, zitiert die Zeitung einen Sprecher des Bundes.
Finanzielle Ressourcen nicht ausgeschöpft, weil Personal fehlt
Personelle Ressourcen scheinen knapp: «Erfahrene SchafhirtInnen fehlen», bestätigt Riccarda Lüthi, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Agridea und dort zuständig für den Herdenschutz und die Schafhirtenausbildung.
Schweizer Schafalpen
Die Schafhirten-Ausbildung wird jährlich von 20 bis 40 Personen begonnen. Rund zwei Drittel der Teilnehmenden schliessen am Ende ab. Dem gegenüber stehen folgende Zahlen aus dem Agrarbericht 2021:
- 2020 erhielten 777 Betriebe Sömmerungsbeiträge für Schafe.
- Insgesamt werden dort rund 22'000 Normalstösse gesömmert, was rund 260'000 Schafen entspricht.
- Auf 204 dieser über 700 Betriebe wurden die Schafe 2020 ständig behirtet.
- Auf weiteren 203 Umtriebsweiden arbeiteten teils ebenfalls HirtInnen.
Längst nicht alle 777 Schaf-Sömmerungsbetriebe sind gross genug, um Hirtenpersonal anzustellen. Das wäre für sie nicht wirtschaftlich. Nichtsdestotrotz lassen diese Zahlen vermuten, dass Leute fehlen, die eingestellt werden könnten.
Es herrscht Personalmangel auf den Schafalpen. Wenn die Arbeit nicht geleistet werden kann, weil die Kräfte dazu fehlen, dann nützen auch die Bundesbeiträge für Herdenschutzmassnahmen wenig. Sie können gar nicht eingefordert werden.
Die fehlenden personellen Ressourcen bewirken also, dass die finanziellen Ressourcen gar nicht ausgeschöpft werden können.
Alpofon hat weniger AushelferInnen im Pool
Stefanie Nickel betreut seit einigen Wochen das Alpofon, die Hotline für ÄlplerInnen, die unter anderem bei Personalausfall Ersatz vermittelt. Auch sie erzählt von fehlenden Arbeitskräften: «Normalerweise bewerben sich um die 100 Personen, die einspringen können, wenn eine Alp Bedarf hat. Dieses Jahr haben sich bis jetzt nur etwas mehr als 60 Personen gemeldet.»
Insbesondere im Juni, zu Beginn der Alpsaison, musste das Alpofon vielen Anfragen von Alpen eine Absage erteilen.
«Über die Gründe können wir nur rätseln. 2020 meldeten sich überdurchschnittlich viele Personen. Das war wegen der Covid-Pandemie, als viele nicht in die Ferien fuhren», sagt Nickel. 2021 standen nur 64 SpringerInnen im Pool zur Verfügung. Und dieses Jahr zeichnet sich eine ähnlich tiefe Zahl ab.
Nachfrage hat sich auch bei Schafalpen eingependelt
Auf der Nachfrage-Seite bleibt es in etwa konstant, pro Jahr hat das Alpofon zwischen 70 und 100 Anrufe von Alpen. «2020 erreichten uns viele Anfragen von Schafalpen. Damals wurde auf vielen Alpen das System umgestellt auf Herdenschutz», sagt Nickel.
Inzwischen scheinen die ÄlplerInnen die Arbeitsplanung angepasst zu haben: 2022 riefen bis jetzt vier Schafalpen bei der Hotline an, erklärt Nickel.
Es fehlt an ausgebildeten Fachleuten – doch weshalb?
Der Wolf verschärft das Personalproblem in zweierlei Hinsicht: Durch ihn steigt die Arbeitsbelastung, es sind mehr Arbeitskräfte nötig. Gleichzeitig macht er die Alpsaison und damit auch den Hirtenberuf unattraktiver, schreckt allenfalls einige ArbeiterInnen ab.
Der Wolf ist nicht der einzige Grund für den Mangel von Fachkräften in den Alpen. Aber einer, den es durchaus zu beachten gilt.
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Strenges Leben als SchafhirtIn
Das Leben einer Schafhirtin ist – auch ohne Wolf – streng: «Keine Dusche, kein Wochenende, lange Arbeitstage und körperlich anstrengende Aufgaben. Das ist nicht jeder und jedem gegeben», erklärt Riccarda Lüthi.
Schafe hirten – das bedeutet, einen Sommer lang hart zu arbeiten, teils alleine den Sommer zu verbringen. Im Herbst zurück im Tal beginnt ein anderes Leben.
Nicht alle HirtInnen machen es wie Sarah Müri und kümmern sich auch im Winter um eine Schafherde. Viele müssen daher eine andere Beschäftigung suchen. Das macht das Leben abwechslungsreich – aber auch unstet und komplizierter als bei anderen Berufen.
Wieso wird man Schafhirt?
Weshalb wählen Menschen diesen doch strengen Beruf des Schafhirten?
In einer Studie der Agridea finden sich unter anderem folgende Motivationen:
- Die Arbeit mit Schafen und Hunden ist für viele die Hauptmotivation.
- Die Arbeit in der Natur: Viele interessieren sich für die wilde Flora und Fauna der Bergwelt.
- Schliesslich schätzen sie das Gefühl auf der Alp: Die Verbundenheit mit der Natur, das einfache Leben, der Hauch von Abenteuer.
Verbesserte Infrastruktur und höhere Löhne
Riccarda Lüthi sagt, es gebe Projekte zur Verbesserung der Infrastruktur. Die Idee dahinter: «Verbessern wir die Schutzhütten und anderen Unterkünfte, könnten die HirtInnen abends in eine einfache, aber gemütliche und warme Unterkunft.
Das wäre ein Aspekt, der den Beruf attraktiver machen könnte», erklärt Lüthi. Das Potenzial sei noch nicht ausgeschöpft, da könne auch der Bund noch stärker unterstützen.
Was Riccarda Lüthi begrüsst, ist die Erhöhung der Sömmerungsbeiträge für Schafalpen, mit denen die Lohnkosten von Hirtenpersonal gedeckt werden können. «Das geht in die richtige Richtung. Es kann helfen, die heutzutage teils tiefen Löhne zu heben», sagt Lüthi.
Ob es auch helfen wird, den Personalmangel zu beheben, wird sich zeigen.
Freiwillige versorgen Schafe mit Wasser – und entlasten die Hirtin
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Abgesehen vom professionell ausgebildeten Personal gibt es die Möglichkeit, freiwillige HelferInnen für den Herdenschutz zu engagieren.
Hilfe von Freiwilligen nimmt Sarah Müri regelmässig in Anspruch. «Ich habe noch nie eine Stelle ausgeschrieben, die HelferInnen gelangen über Kontakte und Mundpropaganda zu mir», sagt Müri.
Diesen Sommer kam eine Studentin für mehrere Wochen. Sie entlastete Müri, indem sie sich beispielsweise um die Wasserversorgung der Schafe kümmerte.
«Das Zäunen konnte ich ihr aber nicht überlassen. Dazu fehlte das Wissen und die Erfahrung», sagt Müri. Riccarda Lüthi sagt Ähnliches: «Heute, wo Herdenschutz zentral ist, muss die Person ausgebildet sein und wissen, wie sie die Schafe führt und kontrolliert.»
Mit «Learning by doing» zur Hirtin
Sarah Müri hat sich ihr Wissen mit «Learning by doing» angewendet. Um mit den Hütehunden arbeiten zu können, besuchte sie Seminare im Inland und Ausland.
Sie erklärt, dass die Alp zu klein sei, um einen zweiten Hirten anzustellen. Die freiwilligen HelferInnen entlasten sie temporär. Das gibt Sarah Müri Zeit, sich dem Zäunen und dem Herdenmanagement zu widmen.
Schweizerische Schafhirtenausbildung
Die Schafhirten-Ausbildung wird von Agridea mit drei landwirtschaftlichen Schulen organisiert und durchgeführt:
- Plantahof, Landquart GR
- Landwirtschaftszentrum Visp VS
- Ecole d’agriculture du Valais, Châteauneuf VS
Die Ausbildung dauert ein bis zwei Jahre und beinhaltet mehrmonatige Praxiseinsätze auf der Alp und im Talbetrieb sowie theoretische Module.