Über 11 Millionen Hochstamm-Obstbäume wurden in der Schweiz von 1950 bis 1975 brutal gefällt oder gesprengt. Der Politikwissenschaftler Franco Ruault erzählt in seinem neuen Buch «Baummord» die Geschichte einer generalstabsmässigen Aktion, welche die Schweizer Landwirtschaft für immer veränderte.

Die Agroforstwirtschaft – also die bewusste Einbeziehung von Bäumen und Sträuchern in der Landwirtschaft – war in der Schweiz bis in die 1950er-Jahre der Normalfall. Bei unseren Grosseltern hiess das einfach Feldobstbau oder Streuobstwiese: Eine jahrhundertelang praktizierte Durchmischung von Äckern mit Hochstamm-Obstbäumen, Sträuchern, Hecken und Gräsern.

Gemäss der «Eidgenössischen Obstbaumzählung» von 1951 zählte man in der ganzen Schweiz 16,8 Millionen Hochstamm-Obstbäume mit einem mittleren Jahresertrag über 100 Millionen Franken. Am dichtesten standen diese Hochstamm-Obstbäume in den Kantonen:

  • Thurgau (22 Bäume pro ha Kulturland, ohne Wald)
  • Basel-Landschaft (21)
  • Basel-Stadt (19)
  • Aargau (17)
  • Zug (17)
  • Zürich (14)
  • Solothurn (12)
  • Luzern (11)
  • Schaffhausen (10)

Von 1950 bis 1975 wurden über 11 Millionen Obstbäume gefällt

Wohl nicht zufälligerweise verschweigt die «Eidgenössische Obstbaumzählung» von 1981 die Vergleichszahlen zu 1951. Man findet diese aber in den «Statistischen Erhebungen und Schätzungen über Landwirtschaft und Ernährung» von 1982 des Schweizerischen Bauernverbandes SBV: 1981 zählte man in der Schweiz nur noch 5,5 Millionen Hochstamm-Obstbäume.

Von 1950 bis 1975 wurden also in der ganzen Schweiz über 11 Millionen Obstbäume brutal gefällt oder gesprengt. Damit wurden auch die genetischen Ressourcen alter Obstsorten und die wertvollen Lebensräume seltener Tierarten und Pflanzenarten vernichtet. Und zwar im Auftrag des Staates, der Eidgenössischen Alkoholverwaltung EAV (die 2018 in die Eidgenössische Zollverwaltung EZV integriert wurde).

Die «Kartoffelschnaps-Pest» lieferte die gesetzliche Grundlage

Juristische Grundlage zur Aktion lieferte das «Bundesgesetz über die gebrannten Wasser» (Alkoholgesetz) von 1887, das die «Kartoffelschnaps-Pest» bekämpfen sollte.

Das arme Landvolk und die Arbeiterklasse soffen damals den billigen Schnaps aus Kartoffeln sowie Obst, Wein und Beeren oft als Nahrungsersatz und Betäubungsmittel weg, was ihre sozialen Probleme nur vergrösserte und dazu auch noch gesundheitliche Probleme schuf. Anders als heute gab es damals eine klare regionale Verteilung des Alkohol-Konsums:

  • Wein in der Westschweiz, in der Südschweiz (inkl. Bündner Südtäler) und im Kanton Zürich
  • Most in der Ostschweiz und in der Zentralschweiz
  • Obst-Branntwein in der Ostschweiz und Westschweiz
  • Kartoffelschnaps in der Nordschweiz und Zentralschweiz
  • Absinth in der Westschweiz

Bier war ein städtisches Phänomen.

Entsprechend föderalistisch motiviert – oder je nach Kanton nicht motiviert – waren die Bemühungen zur Eindämmung des Alkohol-Konsums.

Dabei wäre die Alkohol-Prävention dringend nötig gewesen: Der Schnaps-Konsum war 1922 in der Schweiz ein Drittel höher als in Frankreich und sogar vier Mal so hoch wie in Deutschland. Die Eidgenössische Alkoholverwaltung wollte dem aus fiskalpolitischen und gesundheitspolitischen Gründen ein Ende setzen.

Das ursprüngliche Alkoholgesetz besteuerte nur den Kartoffelschnaps. Durch die Besteuerung des Branntweins aus Getreide oder Kartoffeln blühte im doppelten Sinne des Wortes die Obst-, Wein- und Beeren-Brennerei auf. Das passte der Eidgenössischen Alkoholverwaltung gar nicht, weshalb das staatliche Alkoholmonopol mit dem «Bundesgesetz über die gebrannten Wasser» von 1932 auf diese Brände ausgeweitet wurde.

Die Besteuerung von Obst-Bränden sollte mehr Einnahmen bringen. Erreicht wurde damit aber genau das Gegenteil: Nämlich jedes Jahr bis zu (damals) 15 Millionen Franken Verluste, weil der Bund den Landwirten den Obst-Überschuss und den Branntwein zu garantierten Mindestpreisen abnehmen musste.

Drei Männer bestimmten ein halbes Jahrhundert den Obstbau

1945 lag das «Tausendjährige Reich» von Adolf Hitler schon nach sechs Jahren in Trümmern. Deutschland und Österreich hatten kein Geld, um Schweizer Tafelobst zu importieren. Und der Schweizer Inlandmarkt war gesättigt. Gleichzeitig entstanden in halb Europa Konkurrenzmärkte für Schweizer Tafelobst.

Weil die Schweizer Landwirte für ihr Obst immer noch garantierte Mindestpreise erhielten, bezeichnete sie die Eidgenössische Alkoholverwaltung als «Parasiten», «Verlustbringer» und «Schmarotzer», die mit der Fülle ihres Obstes «den Markt versauen» würden und einer fortschrittlichen Schweizer Landwirtschaft im Wege stünden.

Mit dieser Propaganda ebnete die Eidgenössische Alkoholverwaltung den Weg zur Abholzung der Hochstamm-Obstäume – und für eine skrupellose Obstbau-Seilschaft, die ein halbes Jahrhundert lang von drei staatlichen Funktionären angeführt wurde:

  • Hans Spreng von der Schweizer Obstbauzentrale Oeschberg BE,der «Obstbau-Papst»
  • Gustav Schmid von der Thurgauer Obstzentrale Arenenberg und Leiter der nationalen Obstbau-Kommission, der «Obstbau-Stratege»
  • Ernst Lüthi als Obstbau-Beraterim Thurgau, dem bedeutendsten Obstbau-Kanton der Schweiz,der «Obstbau-General»

«Obstbau-Papst» Hans Spreng hatte ein untrügliches Machtgespür

Der Berner Hans Spreng Senior war unbestritten der Vater des modernen Schweizer Obstbaus. Dieser war aus drei Gründen reformbedürftig: Es wurde mehr Mostobst als Tafelobst angebaut, die «ungeordnet» im Feld stehenden Hochstamm-Obstbäume behinderten die modernen Maschinen und wurden zudem nach alter Methode geschnitten. Das Resultat waren eine aufwändige Erntearbeit und kleinere Erträge.

Spreng brachte Zucht und Ordnung in den Obstbau. Er formte das vermeintlich «Unerzogene und Ungeordnete» der frei stehenden Obstbäume nach seinen Vorstellungen: Mustergültig erzogene, zurecht gestutzte und soldatisch aufgereihte Obstbäume – 10 Meter von Baum zu Baum, 14 Meter zwischen den Reihen. Plantagen wie auf dem Reissbrett, die eine effizientere und grössere Ernte erlaubten.

Bis heute bekannt ist der von Spreng erfundene Oeschberg-Schnitt, der ohne Rücksicht auf die Grundstruktur der Baumkrone den Ertrag steigerte. Äste wurden rausgeschnitten, Zweige herunter bandagiert und sogar Steine daran gehängt. Nicht zuletzt, um die Bäume leichter mit Pflanzenschutzmitteln zu bespritzen.

1927 publizierte Hans Spreng Senior die Broschüre «Der Obstbau wie er ist und wie er sein sollte». Damit legte er das Fundament für die «Umstellung im Obstbau». Die Eidgenössische Alkoholverwaltung übernahm seine Vorstellungen und setzte sie in ein neues Alkoholgesetz um, das 1932 in Kraft gesetzt wurde.

Spreng erkannte, dass er mit einer Verstaatlichung des Obstbaus die Vernichtung der Mostobst-Bestandes erreichen und gleichzeitig seine Macht stärken konnte. Das ging soweit, dass Hans Spreng Senior das Amt des Leiters der Schweizerischen Obstbauzentrale 1965 an seinen Sohn Hans Spreng Junior «vererbte».

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«Obstbau-Stratege» Gustav Schmid war im Thurgau gefürchtet

Der «Obstbau»-Papst» brauchte jemanden, der seine Visionen mit der gleichen Radikalität umsetzte, einen «Obstbau-Strategen». Er fand diesen in Gustav Schmid Senior, ehemaliger Lehrer an der Landwirtschaftlichen Schule Arenenberg TG.

Ehemalige Schüler erinnern sich an dessen Strenge. So drohte er ihnen beim winterlichen Turn-Unterricht im Freien: «Wenn i no einmal gseh öpper in Schnee seiche, denn nimm i d Hippe (ein Bogenmesser zum Baumschneiden) und hau em grad de Pömpl ab!»

«Schmid war ein Patriarch, der unumschränkt geherrscht hat [...] Er war der eiserne Stratege, der hat ein Stahlkorsett gehabt», erzählt ein früherer Mitarbeiter. Und seine Schwiegertochter sagt: «Ich hab ihn gefürchtet! Er ist ein Lauter gewesen, so grob. Er hat geschrien und geflucht, wenn man es nicht so machte, wie er es wollte.»

Als Leiter der Thurgauer Obstzentrale Arenenberg wollte Gustav Schmid Senior bei der «Umstellung im Obstbau» Vorbild für die ganze Schweiz sein. Im traditionsreichen Obstbau-Kanton Thurgau (als «Mostindien» bekannt) waren die radikalen Vorgaben der Eidgenössischen Alkoholverwaltung aber schwer zu erreichen.

Wie Hans Spreng Senior in Bern «vererbte» auch Gustav Schmid Senior 1961 sein Amt an seinen Sohn Gustav Schmid Junior. Noch eine Dynastie im Schweizer Obstbau.

«Obstbau-General» Ernst Lüthi waren ziemlich alle Mittel recht

De jure war Ernst Lüthi der erste Kantonale Obstbau-Berater im Thurgau und damit ein Angestellter von Gustav Schmid. De facto war er der Mann fürs Grobe.

Den Namen «Obstbau-General» erhielt Lüthi, weil er die Hochstamm-Obstbäume mit generalstabsmässiger Planung fällen liess – aber auch mit Drohungen, Erpressung und Gewalt gegen Landwirte, die sich mit Händen und Füssen gegen die Fällaktion wehrten. «Ich musste einmal einem Beil ausweichen, weil ich einen Bauern an der Gurgel gepackt hatte», schrieb er in seinen Erinnerungen.

«Lüthi war ein Glaubenskrieger. Immer in den Kategorien von Kampf denkend, fühlend und handelnd. Der Vollstrecker nüchtern-rationaler Gedankenexperimente, die – ausgeheckt an Schreibtischen in beschaulichen Berner Amtsstuben – jeder Naturgesetzlichkeit völlig fern lagen.» Das schreibt Buchautor Franco Ruault, das bestätigten ihm die Söhne von Ernst Lüthi.

Sein Nachfolger als Kantonaler Obstbau-Berater, Bruno Hugentobler, erklärte rückblickend: «Also der Ernst Lüthi hat ganz klar diktatorische Züge gehabt.» Einer seiner Söhne erzählte gar: «Diese Eingriffe, das war wie eine Vergewaltigung der Bauern, er hat ihnen das Messer angesetzt.»

Dabei wurde Lüthi von ganz oben gedeckt: «Es waren jedenfalls der Eidgenössischen Alkoholverwaltung so ziemlich alle Mittel recht.» Und auch seine Obstbau-Funktionäre und deren Helfer gingen mit unerbittlicher Härte gegen Landwirte vor, die sich oft im wörtlichen Sinne vor ihre Obstbäume stellten.

Aber auch die bekannten Thurgauer Mostereien in Gachnang und Märwil nahm Lüthi ins Visier. Sie zählten für ihn zu den «grössten Widersachern, die uns das Leben zur Hölle machen» und wurden als Vaterlands-Verräter gebrandmarkt und mit Sanktionen bedroht.

Schon im Winter 1950/51 wurden in der ganzen Schweiz 400'000 Hochstamm-Obstbäume gefällt. Alleine 1970 – ironischerweise im Europäischen Jahr des Naturschutzes – forderte die Eidgenössische Alkoholverwaltung EAV, «dass 2 Millionen Apfelbäume und 500'000 Birnbäume weggeräumt werden müssen!»

In der ganzen Schweiz wurden in diesen 25 Jahren über 11 Millionen Obstbäume gefällt, zerhackt, gesprengt oder an Ort und Stelle mit Benzin übergossen und verbrannt.

Die letzten lebenden Baumfäller erzählen vom «Baummord»

Buchautor Franco Ruault konnte auch mit einigen der letzten noch lebenden Baumfäller sprechen, darunter Walter Luginbühl Junior.

Walter Luginbühl Senior hatte von der Thurgauer Obstzentrale Arenenberg den lukrativen Auftrag für eines der vier Thurgauer Fäll-Kommandos erhalten. Alle anfallenden Kosten wurden von der Eidgenössischen Alkoholverwaltung EAV in Bern übernommen.

Die Luginbühls waren im wahrsten Sinne des Wortes rasend schnell: Während die meisten Thurgauer Landwirte Anfang der 1950er-Jahre auf Traktoren mit 35 PS durch die Dörfer tuckerten, rauschten die Baumfäller auf einem Vevey-Traktor mit 70 PS durch den Kanton.

Der heute 77-jährige Walter Luginbühl Junior war von 1958 bis 1975 jeweils von November bis Ende Februar als Baumfäller im Einsatz: «150 Bäume pro Tag, sechs Tage die Woche und das vier Monate lang, ergibt 15 000 Bäume pro Jahr. Und das 17 Jahre lang. Das müssten dann ja 255 000 Bäume gewesen sein, die alleine die Gruppen von meinem Vater gefällt haben.»

Wen wundert es, dass die verzweifelten Landwirte mit Mistgabeln und mit der Sense gegen die Baumfäller kämpften, wie Luginbühl Junior erzählt: «In Märwil hat einer getan wie die Sau. Der war so verrückt auf uns, der hätte zugestochen, und so mussten wir sofort wieder verschwinden.»

Ironischerweise haben die Baumfäller – welche die Obstbäume im Auftrag der Eidgenössischen Alkoholverwaltung fällten – dabei gesoffen wie die Bürstenbinder: «Ohne einen grossen Schnaps haben wir die Motorsäge nicht einmal angeschaut», erzählten ehemalige Baumfäller dem Buchautor Franco Ruault, «wir haben den Schnaps oft aus Biergläsern getrunken.»

Die Baumfäller waren ein wilder Haufen, der richtige Schlachtfelder hinterliess

Rückblickend bezeichnen sich die letzten noch lebenden Baumfäller selbst als «wilden Haufen»: «Wir haben ja wirklich gewütet. Das waren richtige Schlachtfelder, Baum an Baum lag am Boden, das sah aus wie im Krieg.»

Der Lärm der dröhnenden Motorsägen – die damals erst aufkamen – und die ohrenbetäubenden Explosionen der Sprengungen der Obstbäume erschreckten die Dorfbewohner. Die von Adrenalin und Alkohol aufgeputschten Baumfäller «hinterliessen auf ihrem Feldzug eine Spur der Verwüstung, ausgedehnte Krater-Landschaften mit unzähligen niedergerissenen Bäumen», schreibt Buchautor Franco Ruault.

Alleine im Dorf Roggwil TG lagen nach einer einzigen Fällaktion 1000 Hochstamm-Obstbäume am Boden. «Brennholzbestand, den man liquidieren muss», wie «Obstbau-General» Ernst Lüthi schrieb. «Mit alten Auto-Pneus und Alt-Öl lässt sich rasch ein starkes Feuer entfachen.» Die riesigen Haufen haben den ganzen Winter gebrannt.

Als Entschädigung erhielten die Landwirte je nach Obstbaum zwischen 20 und 30 Franken. Der Schaden, den der «Baummord» bei den Bauernfamilien anrichtete, konnte kein Geld wieder gutmachen.

«Baummord» – das Buch

Der Politikwissenschaftler Franco Ruault beschreibt im Buch «Baummord» die Situation der Landwirte seinerzeit. Dazu hat er ehemalige Thurgauer Obstbauern und Baumfäller interviewt.

Ruault zeigt auf, welche Auswirkungen die massenhaft organisierten Obstbaum-Fällaktionen auf das Landschaftsbild, auf die Landwirtschaft und auf das Selbstverständnis der bäuerlichen Bevölkerung hatten. Vor allem im Spannungsfeld zwischen den Direktiven der Eidgenössischen Alkoholverwaltung und der Schweizer Obstbauzentrale mit ihren kantonalen Ablegern.

Das Buch erscheint am 23. Sept. 2021, rechtzeitig also zur diesjährigen Obsternte-Saison in der Schweiz.

«Baummord – Die staatlich organisierten Schweizer Obstbaum-Fällaktionen 1950-1975»
Franco Ruault
Verlag des Historischen Vereins des Kantons Thurgau, Frauenfeld 2021.
160 Seiten, 48 Franken
ISBN 978-3-9524186-8-0
www.hvtg.ch