Nach drei Jahrzehnten ist Fritz Rothen im Juli 2022 als Geschäftsführer von IP-Suisse in den Ruhestand getreten. Oder eher in den Unruhestand, wie man mit Blick auf seine Agenda schreiben müsste.
Fritz Rothen ist ein Agronom mit Ecken und Kanten, ein unbequemer Pionier. In unserem Interview zeigt er aber auch eine Seite, die man von ihm weniger kennt.
Fritz Rothen, 1989 haben Sie den IP-Suisse Marienkäfer zum Fliegen gebracht. Dieser Nützling frisst Läuse und Raupen. Haben Sie darum den Marienkäfer als Markenzeichen gewählt?
Ein Marienkäfer frisst in seinem ganzen Leben 1000 Blattläuse, seine Raupe ebenso viel. Also ist er wirklich ein Nützling. Deshalb – und weil er ein Glücksbringer ist – haben wir den Marienkäfer als Markenzeichen gewählt. Und wenn ich zurückschaue, war das ein Glücksgriff.
Schon zehn Jahre vor IP-Suisse hat der «Blick» einen Marienkäfer als Markenzeichen eingeführt. Und der wurde von einem glamourösen Ehepaar erfunden: Heiri Schmid war der Zeichner der Globi-Bücher und seine Frau Susi Wyss die ehemalige Pariser Sex-Königin, die Affären mit den Musikern David Bowie und Iggy Pop hatte – und für Salvador Dalí als Aktmodell posierte. Ich nehme an, bei IP-Suisse war es weniger glamourös und amourös?
(lacht) Wir waren auf dem Bundesplatz an einer Demonstration, als uns die Idee kam. Inspiriert durch eine Bäuerin aus dem Berner Seeland. Ihr Marienkäfer war zuerst grün, erst später hat er seine rote Farbe bekommen. Und dann kam der IP-Suisse-Schriftzug dazu.
Heute gibt es natürlich ein Markenreglement zu unserem Logo, das über 30 Seiten umfasst. 1989 war das ziemlich hemdsärmelig.
Der Marienkäfer ist als Nützling ein gutes Beispiel für den integrierten Pflanzenschutz, der in den 1980er-Jahren stark aufgekommen ist. Zum Beispiel in Baden-Württemberg, einem der grössten europäischen Anbaugebiete für Kernobst. War das eine Inspiration für IP-Suisse?
Das stimmt. An der ETH Zürich hat Professor E. R. Keller die Idee des Integrierten Pflanzenschutzes aufgenommen und die Grundlagen-Theorien zur Integrierten Produktion gelegt.
Und dann kamen in den 1980er-Jahren Skandale, wie der durch die Verfütterung von Tiermehl ausgelöste Rinderwahnsinn (BSE).
Es gab damals «gute Bauern», das waren die Bio-Landwirte. Und alle konventionellen Landwirte waren die «bösen Bauern». Wir suchten einen mittleren Weg. Und viele, vor allem junge Schweizer LandwirtInnen, gingen mit uns diesen Weg. Sie wollten nicht so viel Chemie spritzen, sondern nur die absolut nötigen Pflanzenschutzmittel einsetzen.
Also haben wir die Idee der Integrierten Produktion auf die Schweizer Landwirtschaft adaptiert, haben Richtlinien geschaffen – und haben vor allem einen grossen Marktpartner gesucht. Das war dann die Migros.
Das war ein sehr guter Grundgedanke und ist heute eigentlich noch aktuell. Mit dem Markt zusammen, Schritt für Schritt. Leider kann man dabei nicht in Riesenschritten vorwärts gehen, wenn durchschnittlich nur ein Mehrpreis von knapp 10 Prozent bei den Rohstoffen drin liegt. Diese Realität hat mich schon etwas frustriert, beim Start habe ich mir das anders vorgestellt. Der Markt hat mir etwas anderes beigebracht.
Wir bewegen uns im Markt. IP-Suisse war nie eine politische Organisation, sondern fokussierte sich von der ersten Stunde an auf den Markt. Und wir haben nur produziert, wenn wir einen Marktpartner hatten, der das Produkt in einer vorher vereinbarten Quantität abnahm.
Sie haben auf der Rütti – dem heutigen Bildungs-, Beratungs- und Tagungszentrum Inforama Rütti bei Zollikofen BE – Landwirtschaft EFZ gelernt. Dann studierten Sie an der ETH Zürich Agronomie und wurden selbst Lehrer auf der Rütti, wo Sie mit sieben Berner Bauern die IP-Suisse gründeten. Wie kommt ein Landwirtschafts-Lehrer auf die Idee, eine Konkurrenz zu Bio Suisse zu gründen?
Als Landwirtschafts-Lehrer hat man damals oft auch die Verbände und Vereine betreut. Ich habe immer gerne Schule gegeben, nach zehn Jahren hängte ich aber den Lehrer-Kittel an den Nagel und wurde hauptamtlich IP-Suisse-Geschäftsführer.
Ich habe IP-Suisse aber nie als Konkurrenz zu Bio Suisse gesehen, sondern als Ergänzung. Wir haben dieselben Aufgaben für die Natur und das Tierwohl, für die Produzenten und die Konsumenten. Und wir arbeiten heute auch regelmässig zusammen. IP-Suisse und Bio Suisse sind aber zwei verschiedene Märkte, zwei verschiedene Preissegmente.
Bio Suisse hatte schon bald nach der Gründung Coop als starken Vertriebspartner. IP-Suisse musste bei Null beginnen. Es gibt eine typische Fritz-Rothen-Geschichte, dass IP-Suisse mit einem 100'000-Franken-Kredit von Gipfeli-König Fredy Hiestand angefangen hat ...
Salopp kann man das ja so sagen. Ich war selber überrascht, als Fredy Hiestand zu uns kam und sagte: «Mir gefällt, was ihr macht. Ich zahle euch 100'000 Franken über dem Preis für konventionellen Weizen und möchte dafür 2000 Tonnen IP-Suisse-Weizen.»
Damals wurde das Getreide noch vom Bund zugeteilt. Wir haben also einen Beamten angerufen und gesagt, wir wollen 2000 Tonnen IP-Suisse-Weizen produzieren. Diese Menge wurde uns zugeteilt und wir konnten die Vertragsproduzenten dafür suchen. Mit zwei Mühlen haben wir dann die ersten 2000 Tonnen IP-Suisse-Weizen gemahlen.
Es gibt noch eine andere typische Fritz-Rothen-Geschichte: Die Migros hat IP-Suisse in den 1990er-Jahren einen Kredit über 50 Millionen Franken gegeben, damit sie in den Getreidehandel einsteigen können. Hat Sie der Hafer gestochen, ausgerechnet dem Milliarden-Konzern Fenaco Konkurrenz zu machen?
Wir hatten damals ein Jahr lang mit der Fenaco verhandelt, was wir zusammen machen könnten. Danach sagten die Bauern in unserem Vorstand, wir probieren das selber.
Heute sind wir zwei starke Partner und IP-Suisse arbeitet mit der Fenaco sehr gut zusammen. Alles, was heute unter Agrinatura in den Volg-, Prima- und TopShop-Läden (alle von Fenaco) verkauft wird, ist zum Beispiel IP-Suisse. Auch bei den Mühlen und bei den Sammelstellen arbeiten wir zusammen, viele Sammelstellen gehören ja der Fenaco. Das läuft gut, obwohl wir am Markt Konkurrenten sind.
Damals machte ein Alleingang von IP-Suisse aber Sinn für die Landwirte – und auch für den Getreidemarkt. Wenn zwei Akteure am Markt sind, müssen sich beide mehr anstrengen.
Heute hat IP-Suisse 10'000 Produzenten und macht 400 Mio Franken Umsatz. Aber es gibt gefühlt über 100'000 Label für Lebensmittel. Braucht es so viele Label? Und braucht es IP-Suisse noch?
Ich persönlich vertrete die Meinung, diese Vielfalt braucht es. Konkurrenz ist immer gut. Die Konsumenten sind damit manchmal überfordert, das stimmt, aber die Konsumenten wollen auch immer etwas Neues probieren.
Am Anfang hiess es, wieso macht ihr nicht gleich Bio. Warum verbietet ihr nicht alle Pflanzenschutzmittel. Und da haben wir immer erklärt: Solange wir zu viele Insekten haben, die unsere Pflanzen fressen, müssen wir Pflanzenschutzmittel einsetzen.
Auf der anderen Seite sind aber auch viele Landwirte überfordert mit den Anforderungen der Labels, die immer strenger werden. Als sie das Biodiversitäts-Punktesystem 2010 einführten, hielt sich die Freude bei den IP-Suisse-Landwirten in engen Grenzen.
Am Anfang habe ich wirklich gedacht, da machen wir einen riesigen Fehler, wir überfordern unsere Leute. Ich staune heute manchmal selbst, wie selbstverständlich die Bäuerinnen und Bauern mit den 35 Massnahmen des Biodiversitäts-Punktesystems umgehen.
Auch die Konsumenten haben das System gut angenommen. Mir haben viele Bäuerinnen und Bauern gesagt: «Das ist super, jetzt werden wir sogar gelobt.»
Aber es stimmt, ein grosses Problem der Schweizer Landwirtschaft ist die Über-Regulierung. Am Anfang hatten wir bei den Nutztieren nur drei Seiten Richtlinien – heute sind es über 30 Seiten Richtlinien. Weniger wäre mehr.
Deshalb haben wir auch mit dem Biodiversitäts-Punktesystem angefangen. Also weg vom «Zentimeterlen», das oft mit hohen Investitionskosten verbunden ist. Wir verlangen bei der Biodiversität im Minimum 17 Punkte. Unsere Produzenten erreichen freiwillig im Schnitt über 24 Punkte. Für die Natur und für das Tierwohl bringt dieses Punktesystem mehr als alle Verordnungen.
Mit dem Stichwort Über-Regulierung sind wir bei der Politik gelandet. Bio Suisse ist im Bundeshaus sehr stark vertreten, IP-Suisse hält sich eher zurück. Ist das ein bewusster Entscheid?
Das hat sich einfach so ergeben. Die Leute, die von Anfang an im Vorstand mitmachten, waren keine Politiker, die gewählt werden mussten. IP-Suisse war immer konsequent auf den Markt fokussiert. Da kann man nicht noch politisieren. Wir können nicht politisch gegen unsere Kunden vorgehen, auch wenn Missstände herrschen, wenn man Sachen verbessern muss.
Fritz Rothen, Sie haben IP-Suisse so erfolgreich aufgebaut, dass Ihr Nachfolger Christophe Eggenschwiler schon fast verzweifelt neue Produzenten sucht. Wieso ist es so schwierig, neue IP-Suisse-Landwirte zu finden?
Der Markt hat gezeigt, dass wir bei den Rohstoffen mit der Integrierten Produktion je nach Produkt einen Mehrpreis von knapp 10 Prozent erreichen.
Bei einer so knappen Marge für den Produzenten braucht es etwas Überwindung, dass die Bäuerinnen und Bauern sich kontrollieren und zertifizieren lassen. Im dümmsten Fall haben sie für ein paar Rappen mehr etwas weniger Ertrag. Deshalb haben wir bei der Milch genug Produzenten, bei anderen Produkten dauert es länger.
IP-Suisse ist eine Produzenten-Organisation. Wenn wir am Markt nicht den nötigen Mehrpreis verhandeln können, dann werden wir immer mehr Mühe haben, neue Produzenten zu finden. IP-Suisse muss sich jeden Tag aufs Neue anstrengen.
Sie sind seit Juli 2022 im Ruhestand. Aber es war fast unmöglich, einen Termin für dieses Interview zu finden. In vielen Bauernfamilien redet der alte Bauer seinem Nachfolger ins Tagesgeschäft rein. Kann sich Fritz Rothen ins Stöckli zurück ziehen?
Ich habe mich drei Jahre mit meiner Pensionierung auseinandergesetzt. Und ich glaube, mir ist ein sauberer Abschluss gelungen. Ich greife meinem Nachfolger nicht in die Zügel und ich gehe auch nicht mehr ins Büro von IP-Suisse.
Ich bin heute angestellt beim Tiervermarktungs Betrieb der IP-Suisse, der ASF (AG für Schlachtviehhandel und Fleischimporte) in Sursee LU. In deren Auftrag gehe ich auf Bauernbetriebe, so wie ich angefangen habe. Ich kommuniziere sehr gerne mit den Bauern und löse mit ihnen Probleme.
Zusätzlich bin ich bei der Stadtmühle Schenk in Ostermundigen BE und beim Software-Unternehmen Modan AG in Zollikofen BE im Verwaltungsrat.
Und ich setze mein Netzwerk für die Weichkäserei Grand-Pré in Moudon VD ein. Ich habe dafür extra Aktien gekauft und bin dort als Privatmann engagiert.
Sie haben einige Projekte aufgezählt, ein sehr spezielles Projekt haben Sie aber vergessen: In ihrem Nachbardorf haben Sie eine zwei Tonnen schwere Linde ausgegraben und vor Ihrem 200 Jahre alten Bauernhaus in Mattstetten wieder eingepflanzt, sozusagen umgetopft. Da steckt sicher auch eine typische Fritz-Rothen-Geschichte dahinter ...
Im Nachbardorf haben sie von einer sogenannten Napoleon-Linde einen Nachkommen gezogen und jahrelang gepflegt. Und weil vor meinem Bauernhaus in Mattstetten früher eine Linde stand, wollte ich den ursprünglichen Zustand wieder herstellen. Diese Napoleon-Linde war halt ein bisschen grösser. (lacht)
Eine Linde finde ich etwas Schönes und ich finde, vor dieses Bauernhaus gehört eine Linde.
Wenn wir Sie in ein paar Jahren besuchen, sind Sie dann immer noch so aktiv – oder sitzen Sie dann unter ihrer Napoleon-Linde und trinken gemütlich ein Glas Wein?
Ich bin tatsächlich eher im Unruhestand als im Ruhestand. Aber ich kann mir die Zeit einteilen. Vorher wurde ich von den Terminen getrieben. Aber ich kann nicht einfach abstellen. IP-Suisse ist für mich das Leben.
Das Interview wurde in Absprache mit Fritz Rothen zur besseren Verständlichkeit bearbeitet und gekürzt.
Fritz Rothen
Fritz Rothen (65) ist in Laufen BL geboren und auf einem Landwirtschaftsbetrieb aufgewachsen.
Er absolvierte die Ausbildung zum Landwirt mit einem 1. Lehrjahr (1973) bei der Familie Hofer in Bannwil BE und der Jahresschule Rütti bei Zollikofen BE (1974 bis 1976). Danach arbeitete Rothen auf verschieden landwirtschaftlichen Betrieben in der Schweiz.
Auf dem zweiten Bildungsweg studierte Fritz Rothen an der ETH Zürich Agronomie mit dem Abschluss (1987) im Bereich Pflanzenbau.
Als Landwirtschaftlehrer und Berater kehrte er auf die Rütti Zollikofen zurück (1987 bis 1997). Gleichzeitig war er einer der Mit-Begründer und von 1989 bis 2022 Geschäftsführer von IP-Suisse.
Seit Juli 2022 widmet sich Fritz Rothen verschiedenen Projekten.