Kurz & bündig

  • Die Muttertiere werden abends kontrolliert und bei Bedarf ausgemolken.
  • Meistens ist der Milchfluss gut. Aber ganz ohne Oxytocin gehe es nicht.
  • Das sei der einzige Nachteil der muttergebundenen Kälberaufzucht.
  • Der Mehrwert des Fleisches und der Milch wird zurzeit noch nicht ausgelobt.
  • Das kann sich in Zukunft ändern, denn die Nachfrage der Konsumenten ist da.

Braune, rote, schwarze Kühe – die Milchvieh-Herde von Familie Rusch ist bunt gemischt. Das passt so gar nicht in den traditionsreichen Kanton Appenzell AR.

Und Ruschs setzen noch einen oben drauf: Sie lassen die Kälber tagsüber mit den Milchkühen mitlaufen. «Ich bin ein richtiger Exot in dieser Gegend», sagt Landwirt Sepp Rusch und lacht.

Die Kälber sind tagsüber mit den Kühen auf der Weide

Angefangen hat es im Jahr 2014. Der alte Anbindestall musste einem Laufstall weichen. Für die Kälber gab es kurzzeitig einfach keinen Platz und so liess Sepp Rusch sie einmal mit den Kühen laufen. Sepp Rusch erinnert sich gut. «Nicht nur den Kälbern hat das gefallen, sondern auch mir», sagt er.

Seither macht Rusch muttergebundene Kälberaufzucht. Ruschs tränken die Kälber am Morgen von Hand mit dem Kessel und melken alle Kühe wie gewohnt. Im Anschluss dürfen die Kälber mit den Kühen raus auf die Weide. Im Winter dürfen alle in den Laufstall.

«Der Vorteil des Tränkens ist, dass die Kälber dann nicht hungrig zu ihren Müttern gehen und am leeren Euter saugen», sagt Sepp Rusch.

Die Kühe warten am Morgen jeweils am Weidegatter auf ihre Kälber, erzählt Rusch. Am Abend sei es das Gegenteil. «Da interessieren sich Kuh und Kalb kaum noch für einander», sagt Rusch und lacht. Die Kälber gehen meistens selbstständig in den Kälberstall.

Die Muttertiere kontrolliert der Landwirt am Abend und melkt sie bei Bedarf aus. Diese Milch bekommen die Kälber nochmals angeboten.

«Der Durst bei den Kälbern ist abends ganz unterschiedlich», sagt Rusch. So kann es sein, dass sie abends keine oder nur einen oder zwei Liter Milch trinken. Am Morgen sind es drei bis fünf Liter. Was sie tagsüber trinken, sei schwierig abzuschätzen. Weil Ruschs die Kälber nach wie vor auch von Hand tränken, bleiben die Kälber zahm.

Viele Varianten der muttergebundenen Kälberaufzucht

Ruschs System der muttergebundenen Kälberaufzucht nennt das das Forschungsinstitut für biologischen Landbau FiBL «Langzeitiges Säugen mit unbegrenztem Zugang und mit zusätzlichem Melken».

Weitere Systeme haben Ruschs nie in Betracht bezogen. Claudia Schneider vom FiBL erklärt, dass es sehr viele unterschiedliche Varianten gibt. Sie lassen sich grob in drei Gruppen einteilen. (siehe Kasten unten)

Ruschs System funktioniert auch im Winter. Anstatt auf die Weide dürfen die Kälber einfach in den Laufstall. Im Laufstall gibt es 34 Liegeboxen. Wenn im Winter auch das Jungvieh im Stall ist, wird es eng.

Deshalb brauchte es eine wichtige bauliche Massnahme: den Kälberschlupf. Da die Kälber gerne in ihrem Grüppchen unterwegs sind, funktioniere der Kälberschlupf sehr gut und die Kälber besetzen selten die Liegeboxen, sagt Sepp Rusch. Im Kälberschlupf haben sie auch Zugang zu Emd.

«Manchmal brauchen wir den Kälberschlupf auch als Abkalbe-Box», sagt Rusch. Die Kuh können sie ganz einfach wieder in den Laufstall lassen und das Kalb weiss bereits, wohin es gehört. Das funktioniere wunderbar.

Gleichbleibende oder höhere Eutergesundheit

Als Sepp Rusch sich immer mehr für die muttergebundene Kälberaufzucht zu interessieren begann, war seine Frau Brigitte skeptisch. «Ich befürchtete, dass Euterprobleme entstehen», sagt Brigitte Rusch, «und für uns war die muttergebundene Kälberaufzucht komplettes Neuland.»

In diesem Zeitraum stellten Ruschs von Anbindehaltung auf Laufstall um. Das neue Aufstallungs-System hatte einen enorm positiven Einfluss auf die Eutergesundheit, erinnert sich der Landwirt. «Durch das Säugen der Kälber hat sich die Eutergesundheit nicht verschlechtert», sagt Sepp Rusch. Im Gegenteil, sie sei eher gestiegen.

Die Notwendigkeit von Oxytocin ist der einzige Nachteil

«Im Normalfall geben die Kühe die Milch gut», sagt Rusch. Aber es könne auch mal vorkommen, dass dies nicht so ist. Wenn das passiert, muss Rusch Oxytocin spritzen. Oxytocin lockert die Muskeln und ermöglicht, dass die Milch einschiesst.

«Das war früher nie nötig. Jetzt kann das schon mal vorkommen, dass wir Oxytocin einsetzen müssen», sagt Rusch. Dieser Fakt sei für ihn der einzige Schwachpunkt der muttergebundenen Kälberaufzucht. Die Vorteile überwiegen für ihn klar.

Eine klare Arbeitserleichterung ist das Ausmisten. Es fällt nur noch etwa die Hälfte des Mistes im Kälberstall an. Dementsprechend sei der Stroh-Verbrauch viel kleiner. Auch Fliegen werden selten zum Problem, da die Tiere seltener im Stall sind. Beim Zäunen macht sich die Familie Rusch keinen zusätzlichen Aufwand. Die Kälber gehen zwar manchmal unter dem Zaun durch. «Wir können das hier glücklicherweise etwas lockerer nehmen», sagt Sepp Rusch. Denn bei Ruschs gibt es weit und breit keine grössere Strasse. Der Betrieb liegt in einer Sackgasse. Rundherum hat es Grünland.

Wenig Akzeptanz unter Berufskollegen

Ruschs Art, die Kälber zu halten sei von Berufskollegen wenig akzeptiert. «Das macht man einfach nicht», ist Sepp Rusch schon oft zu Ohren gekommen, auch von einem landwirtschaftlichen Berater. «Leute aus der nichtlandwirtschaftlichen Bevölkerung sind hingegen sehr interessiert», erzählt Rusch. Das motiviere sie. Für Interessierte nehmen sie sich Zeit und stellen den Betrieb vor.

Im Moment gehen die meisten Tiere vom Betrieb «Nassi» an die Linus Silvestri zur weiteren Mast. Der Grossteil als Mastremonten und selten auch als Tränker. Nur einen kleinen Teil vermarkten Ruschs selber.

Fleisch und Milch mit einem Mehrwert vermarkten

«Es ist schade, dass diese Tiere in den normalen Fleischkanal kommen», sagt Sepp Rusch. «Die besonders kälberfreundliche Haltung wird im Moment noch nicht ausgelobt», sagt er. Auch regionale Metzger hätten noch kein Interesse daran. In Zukunft möchten Ruschs auch weiterhin auf die Milchproduktion und auf die muttergebundene Kälberaufzucht setzen. Ihr Ziel ist es, das Fleisch der Kälber mit einem Mehrwert verkaufen zu können. Sie können sich auch vorstellen, auf eine Zweinutzungsrasse wie Montbéliarde umzustellen, damit die Fleischigkeit der Tiere besser wird.

 

Mutter- und ammengebundene Kälberaufzucht ist noch immer eine Grauzone

Ruschs Milchabnehmer ist die Mooh-Genossenschaft. «Die Qualität müsse stimmen», betonte die Mooh Genossenschaft damals gegenüber Rusch, als dieser in die muttergebundene Kälberaufzucht einsteigen wollte.

Laut Gesetz muss man das ganze Gemelk abgeben. «Wir tangieren das Gesetz in diesem Sinne nicht», sagt Sepp Rusch. «Weil wir die Milch der ausgemelkten Kühe den Kälbern tränken, geben wir ja nur die Milch vom Morgen ab», sagt Rusch, «und das ist das ganze Gemelk.»

Die revidierte Verordnung «Vermarktung von Milch aus muttergebundener Kälberaufzucht» war bis Ende August 2019 in der Vernehmlassung. Tritt sie per 2020 in Kraft, könnten die Milchbauern ihre Milch legal vermarkten.

 

 

Betriebsspiegel Betrieb «Nassi»

Brigitte und Sepp Rusch mit Sandra, Melanie und Thomas aus Urnäsch AR

LN: 20 ha, Bergzone 2

Bewirtschaftung: Bio-Umstellung im 2. Jahr

Betriebszweige: Milchproduktion, Mastremonten, Kälbermast

Tierbestand: 22 Kühe + Jungvieh und Kälber

Kulturen: Grünland

Arbeitskräfte: Betriebsleiter-Ehepaar