In einem Stromkreis fliesst der Strom immer von der Quelle zum elektrischen Gerät und wieder zurück. Wenn im Erdboden oder in Gebäude-Erdungssystemen kleine Anteile des Rückstroms fliessen, sprechen wir dabei von Streuströmen.

In der Landwirtschaft sind Streuströme schon seit ein paar Jahren ein Thema. Im Stall haben die elektrischen Installationen zugenommen: Bei der Melkanlage, beim Futterautomaten oder beim Mistschieber ist Strom im Spiel. Diese Tatsache alleine muss nicht automatisch zu Streuströmen führen – solange richtig gebaut und installiert wurde. Doch später mehr dazu.

Kühe spüren Differenzspannung von mehr als 1 Volt

Von einer Kuh wird nicht der Streustrom als störend empfunden, sondern Differenzspannungen zwischen leitenden Teilen (beispielsweise zwischen Wassertränke und Stallboden), welche bewirken, dass ein Strom durch das Tier hindurch fliesst.

Die Kuh kann den Stromfluss spüren, sobald zwischen der Wassertränke und dem Stallboden eine Differenzspannung von mehr als 1 Volt herrscht.

Zum Vergleich: In unseren Steckdosen liegt eine Spannung von 230 Volt an. Ab rund 25 Volt wird es für die Kühe lebensbedrohlich, beim Menschen wird es ab rund 50 Volt gefährlich.

Streuströme sind also nicht lebensbedrohlich, können aber bei den Nutztieren dazu führen, dass auf Herdenniveau die Eutererkrankungen oder Unfruchtbarkeit zunehmen.

Viele Streustrom-Anfragen beim SBV

Vieles rund um die Streuströme scheint allerdings nicht klar zu sein. Es herrscht beispielsweise Unklarheit, wie oft denn nun Streuströme im Stall vorkommen.

Bei Thomas Jäggi, stellvertretender Leiter Geschäftsbereich Viehwirtschaft beim Schweizer Bauernverband SBV, melden sich beispielsweise viele LandwirtInnen, die den Verdacht haben, dass bei ihnen im Stall Streuströme fliessen und Fragen zum weiteren Vorgehen haben.

Günther Storf, technischer Experte beim Eidgenössischen Starkstrominspektorat ESTI sagt, dass in den wenigsten Verdachtsfällen tatsächlich unzulässig hohe Berührungsspannungen im Zusammenhang mit Streuströmen gemessen werden konnten. Genaue Zahlen kennt aber auch er nicht.

An Streuströme und auch an andere Faktoren denken

AboDie Zusammenführung der Stromkreise von Wohnhaus und Stall zum Anschluss an eine Notstromanlage gab den Ausschlag für Streuströme im Melkstand. Bild: Mareycke FrehnerTierhaltungStreuströme im Stall entdecken und behebenSonntag, 27. Oktober 2019 Es ist ein schwieriges Thema. Als Laie ist schwierig abzuschätzen, ob Strom fliesst, wo das gar nicht geschehen sollte. Hat ein Grossteil der Kühe Euter- oder Fruchtbarkeitsprobleme oder sträubt sich beim Melken, kann der Gedanke auftauchen, dass Streuströme die Ursache sind. 

Es ist gut, an diese Option zu denken. Andere Faktoren wie Futterqualität, Stallklima oder Krankheitsdruck sollten aber unbedingt auch abgeklärt und wenn möglich ausgeschlossen werden. Denn etliche der Symptome sind unspezifisch und könnten andere Auslöser als Streuströme haben.

Streuströme aufspüren und messen ist sehr komplex

Gewissheit erlangt man, wenn ExpertInnen Messungen im Stall durchführen. Wenn das ESTI im Stall die Situation untersucht und Spannungen im Aufenthaltsbereich der Tiere misst, wird das allerdings teuer und kostet mehrere tausend Franken.

Als erste Anlaufstelle bei Streustrom-Verdacht empfiehlt sich der Elektriker des Vertrauens. «Im Laufe unserer Ausbildung wird dieses Thema eingehend behandelt, daher sollte jeder Elektriker mit der Problematik vertraut sein. In der Praxis gestaltet sich das Aufspüren und Messen von Streuströmen jedoch oft als sehr komplex und setzt eine gewisse Erfahrung oder sogar Spezialisierung auf dem Gebiet voraus», erklärt Lukas Steinmann, eidg. dipl. Elektroinstallateur und Co-Geschäftsleiter der Elektro Gygax AG in Herzogenbuchsee BE.

Haus-Elektriker macht erste Einschätzung

Der Haus-Elektriker kann eine erste, eher theoretische Einschätzung der Situation machen: Kommen allfällige Streuströme von aussen, beispielsweise von einer Starkstromleitung oder der Bahnlinie? Oder gibt es Berührungsspannungen aufgrund von Geräten auf dem Landwirtschaftsbetrieb?

«Fallen uns Fehler oder Mängel an der Elektroinstallation auf, welche im Zusammenhang mit möglichen Streuströmen stehen, können wir diese beheben. Wird keine eindeutige Ursache festgestellt, kann eine auf diesem Gebiet spezialisierte Firma hinzugezogen werden», sagt der Elektroinstallateur Steinmann.

Auf keinen Fall den Blitzableiter durchtrennen

Wovon Thomas Jäggi vehement abrät, sind Massnahmen zu befolgen, die von Personen empfohlen wurden, die bei der Elektrik fachlich nicht genügend ausgebildet sind: «Ich hörte vom Tipp, den Blitzableiter durchzuschneiden. Aber selbst, wenn damit Streuströme durchbrochen wären – es ist keine Lösung, weil das Gebäude nicht mehr vor Blitzeinschlag geschützt ist und den Versicherungsschutz verliert, was zur Katastrophe führen kann», erklärt Jäggi.

Damit es gar nicht erst zu Streuströmen kommen kann, sind die richtigen Erdungskonzepte und Elektroinstallationen Voraussetzung. Bei der Stallbauplanung muss an mögliche Streuströme gedacht und dementsprechend ein sorgfältiger Potentialausgleich geplant werden, mit der Unterstützung eines Elektroinstallateurs. Dieser Plan muss schliesslich richtig umgesetzt werden.

Online-Plattform als seriöse Anlaufstelle bei Fragen

Anfang 2023 hat Agridea in Zusammenarbeit mit dem SBV, dem ESTI, dem Verband Schweizerischer Elektrokontrollen und der Ostschweizer Fachhochschule eine Online-Informationsplattform zum Thema Streuströme aufgeschaltet.

Finanziert wurde das Projekt vom Bundesamt für Landwirtschaft BLW und dem Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV.

«Diese Informationsplattform soll eine seriöse Anlaufstelle werden für LandwirtInnen, die Fragen rund um Streuströme haben», erklärt Thomas Jäggi. Auf den Online-Seiten finden sich kostenlose Fachinformationen und Fallbeispiele. Insbesondere die Fachinformationen sind zwar sehr umfassend, aber auch komplex. Um die ganze Tragweite zu verstehen, braucht es einiges an Lesezeit. Laut Thomas Jäggi lohnt sich das aber durchaus: «Als Bauherr sensibilisiert zu sein, ist sehr wichtig.»

Auf der Informationsplattform besteht ausserdem die Möglichkeit, die Stallbauplanung oder die eigenen Probleme mit Streuströmen einzureichen. Die Dossiers werden von Fachpersonen begutachtet. Dieser Dienst ist kostenpflichtig.