Bei diesem Anblick blutet jedem Landwirt das Herz: Zerfetzte Kühe, kaputte Maschinen und verminte Felder. Auf der Agromol-Milchfarm 30 Kilometer östlich von Charkiw hat der Krieg eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Wie viele Betriebe in der Ukraine kämpft die Farm nun um ihr Überleben.

Die Kühe von Agromol waren einmal der ganze Stolz von Schestakowe, einem kleinen Dorf in der Ost-Ukraine mit nur 600 Einwohnern. 3000 Milchkühe lebten hier auf der wichtigsten Milchfarm der Region Charkiw. Doch jetzt ist vom einstigen Musterbetrieb kaum mehr etwas übrig. Und die Tiere sind zu einem grossen Teil tot.

Alleine auf der Agromol-Milchfarm wurden 2000 Kühe getötet

«Wir haben über 2000 Kadaver weggeschleppt», sagt Serhii Jazenko, der Chefagronom. Er steht auf einer Hügelkuppe unter dem grauen Himmel, inmitten von dem, was vor dem Krieg einmal sein Arbeitsplatz war.

Die Kuhställe von Agromol mit ihren automatischen Temperatur- und Lüftungssystemen galten als die modernsten der Region. Nun liegen sie in Trümmern. In der Molkerei ist die Decke eingestürzt. Auf den Feldern, wo früher Futter für die Nutztiere wuchs, liegen Minen und Blindgänger.

«Wir fangen wieder bei null an», sagt Jazenko. «Das trifft die ganze Region. Denn unser Betrieb war einer der wichtigsten Arbeitgeber hier.»

Die russische Armee zerstört die wirtschaftlichen Grundlagen der Ukraine

In Schestakowe zeigt sich, welche Verheerungen der Krieg in der Ukraine anrichtet. Längst zerstört er auch die wirtschaftlichen Grundlagen des Landes. Im Osten der Ukraine sind es vor allem die Kampfhandlungen, die ein normales Arbeiten unmöglich machen.

Doch es kommen weitere Faktoren hinzu: die zerstörte Infrastruktur, eine eingebrochene Nachfrage und die Tatsache, dass viele ukrainische Männer in den Kriegsdienst eingezogen werden.

Inzwischen berechnet die Weltbank die Summe der Schäden in der Ukraine auf über 300 Milliarden Dollar, aktuelle Berichte sprechen gar von 1000 Milliarden Dollar Kriegsschäden.

Bösartige Graffiti: «Wir haben alles geklaut.Das ist Russland, Baby!»

In Schestakowe begann das Unheil Ende Februar 2022. Wenige Tage nachdem Putin die Ukraine überfallen hatte, zerbombte die russische Armee das Gelände der auf einer Anhöhe gelegenen Agromol-Milchfarm und beschoss dann von hier aus die ukrainischen Verteidiger von Charkiw.

Als Kiews Truppen zum Gegenangriff antraten, gerieten die Ställe erneut unter Feuer. Immer wieder gingen Bomben und Granaten auf die Hallen und Felder nieder und verwandelten den Landwirtschaftsbetrieb in einen apokalyptisch anmutenden Ort. «Bis zu 100 Granaten pro Stunde» zählte Serhii Jazenko.

«Auf ihrem Rückzug haben die Russen alles gestohlen, was nicht niet- und nagelfest ist», sagt Jazenko, während er an kaputt geschossenen Maschinen vorbeiläuft. Einen der modernen John-Deere-Traktoren kann er dank dem eingebauten GPS-System sogar lokalisieren. Er fährt jetzt keine 200 Kilometer entfernt in der russischen Provinz Belgorod.

In den Trümmern stösst man überall auf Spuren der Besatzer. Im Ersatzteillager haben sie an einer Wand Graffiti hinterlassen. Darauf steht: «Wir haben alles geklaut. Das ist Russland, Baby!»

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Was bedeutet das «Z» der russischen Soldateska?

Das Zeichen «Z», das die russische Soldateska auf ihre Panzer und auf zerstörte Gebäude malt, hat zwei Bedeutungen:

– Abkürzung der russischen Wortkombination «für den Sieg“ (russisch за победу = sa pobedu)
– Abkürzung für «nach Westen» (russisch запад = sapad) zur Unterstreichung der gross-russischen Ambitionen des Kremls

2000 Milchkühe starben auf elende Weise durch Granaten, Minen oder Hunger

Am schlimmsten traf es jedoch das Vieh. «Als die Russen kamen, konnten wir uns nicht mehr um die Tiere kümmern», erzählt Katherina Kasenna, die Buchhalterin des Betriebs, die während der Besatzung in der Nachbarschaft ausgeharrt hat.

«Wir haben die Kühe aus der Ferne brüllen hören. Es war herzzerreissend.» Über 2000 der ursprünglich 3000 Tiere starben auf elende Weise: Sie verhungerten in den Ställen oder wurden von Bomben, Granaten und Tretminen zerfetzt. Bis heute liegen überall auf dem Gelände von Fell und Hautfetzen umhüllte Skelette umher.

Dem grössten Milchproduzenten in der Region Charkiw droht das Aus

«Insgesamt hat uns der Krieg bisher 30 Millionen Dollar gekostet», sagt Wiktor Swerew, der Besitzer der Farm. Das betreffe nur die Maschinen und die toten Tiere. Dazu kämen die ganzen Umsatzausfälle. Swerew betreibt daneben noch zwei weitere Farmen sowie eine Joghurtfabrik, die in Friedenszeiten pro Tag 35 Tonnen Milch verarbeitete.

Swerew sitzt in einem Hotel in Charkiw. Er kann immer noch nicht fassen, was geschehen ist. Zum Treffen hat er eine ganze Tasche voller Milchprodukte mitgebracht. «Damit Sie sich gleich selber von der Qualität überzeugen können.» Immer wieder zeigt er Fotos von den toten Kühen. «Die Russen sind Barbaren», sagt er.

Der Unternehmer war der grösste Milchproduzent in der Region Charkiw. Jetzt droht ihm das Aus. Neben den schweren Schäden und Verlusten plagen ihn auch noch offene Kredite bei verschiedenen Banken. «Wenn es so weitergeht, wird es schwer für uns», sagt er. «Wir brauchen Hilfe aus der Politik.» Doch bisher hat er von offizieller Seite noch keine Unterstützung bekommen.

Die überlebenden Kühe haben Schrapnell-Stücke im Fleisch

So nehmen die Angestellten in Schestakowe die Dinge vorerst selbst in die Hand. Einige der Stallungen haben die Männer bereits repariert, ratternde Diesel-Generatoren sorgen für Strom. In einer Werkhalle flicken Arbeiter kaputte Fahrzeuge.

Von ehemals 150 Angestellten sind gerade noch 35 übrig. Ein Arbeiter kam bei den Kämpfen ums Leben, der frühere Direktor der Farm wurde offenbar von den Russen verschleppt.

Wenigstens Kühe sind wieder da. In einer dramatischen Rettungsaktion war es den Arbeitern gelungen, die überlebenden Tiere zwischen zwei Angriffen ins Hinterland zu evakuieren.

Seit die ukrainische Armee die Russen aus der Region vertrieben hat, werden die Tiere zurückgebracht. «Aber viele Kühe sind krank, weil wir sie im ganzen Chaos nicht impfen konnten», sagt Chefagronom Serhii Jazenko. Zudem finde man nach der Schlachtung immer wieder Schrapnell-Stücke im Fleisch der Tiere.

Um den Betrieb wieder auf Vordermann zu bringen, müsse vor allem erst einmal Ruhe herrschen, sagt Jazenko. Doch während der Agronom auf die Elektriker wartet, die in einem alten sowjetischen Lieferwagen die schlammige Strasse hochgefahren kommen, um endlich die Stromleitung zu reparieren, ist in der Ferne das Donnern der Kanonen zu hören. Der Krieg, der unter den Kühen von Schestakowe so viele Opfer gefordert hat, geht unvermindert weiter.

Die russische Armee zerstört in der Ukraine gezielt die Landwirtschaft

Der russische Angriffskrieg hat grosse Teile der Landwirtschaft in der Ukraine vernichtet:

– 44'000 Landwirtschafts-Maschinen wurden zerstört, 160'000 km2 (vier Mal die Fläche der Schweiz)haben die Russen vermint.
– Es wurden schätzungsweise so viele Tiere getötet, wie der ganze Schweizer Nutztierbestand zählt.

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Betriebsspiegel der Agromol-Gruppe

Wiktor Swerew, Miteigentümer der Agromol-Gruppe, Schestakowe UKR

LN: 3 Farmen bei Charkiw mit insgesamt 20 000 ha
Kulturen: u.a. Weizen, Mais, Sonnenblumen und Zuckerrüben
Tierbestand: 3000 vor dem Krieg,heute nur noch 1000 Milchkühe
Weitere Betriebszweige: Eigene Milchverarbeitung in der Molkerei «Charkowskij Moločnyj Kombinat»: rund 35 Tonnen Milch pro Tag.
Arbeitskräfte: 150 Mitarbeiter vor dem Krieg,heute nur noch 35 Mitarbeiter