Die Hysterie um Pestizide sei nur ein Furz im Wasserglas, das schreibt «die grüne»-Chefredaktor Jürg Vollmer im Heft 9/2023). Das ist angesichts der Faktenlage schlichtweg falsch: Pestizid-Rückstände werden mittlerweile in allen Ökosystemen gefunden – mit weitreichenden Folgen für Mensch, Tier und Umwelt. Allein in der Luft wurden mehr als 300 Stoffe nachgewiesen, die je nach Topografie der Landschaft 30 bis 300 Kilometer weit verfrachtet werden. (1)
Die dadurch entstehenden Gemische vermögen die menschliche Gesundheit auf folgenden Ebenen zu schädigen, wie ein aktuelles EU-Projekt (1) zeigt: Sie verändern das Erbgut, hemmen die Fruchtbarkeit, schädigen die Nerven, fördern Krebs oder stören das Hormonsystem.
Neonicotinoide sind besonders problematisch
Pestizide erzeugen leider oft schädigende und tödliche Effekte auch auf Nicht-Ziel-Organismen in der Landschaft. Das zeigt unter anderem eine Studie (2) von 2013 im renommierten Science Magazin. Besonders problematisch sind zum Beispiel Neonicotinoide. Diese werden gemäss einer nationalen Studie (3) im Schweizer Mittelland in8 0 Prozent der Biodiversitätsflächen nachgewiesen. Dort belasten sie als systemische Insektizide, deren Gifte in jeden Pflanzenteil gelangen, auch blütenbesuchende Nützlinge wie Bienen.
Das Problem existiert weltweit: Drei Viertel aller Honigproben enthalten ein Neonicotinoid, und fast die Hälfte des Honigs enthält zwei oder mehr Neonicotinoide, wie eine globale Erhebung im Science (4) von 2017 zeigt.
Pestizide werden seit Jahrzehnten grossflächig eingesetzt und trotz aller Vorsichtsmassnahmen über weite Distanzen in der Landschaft verfrachtet. Mit verheerenden Folgen: Innert dreissig Jahren wurde die Insekten-Biomasse um 75 Prozent reduziert, zeigt eine Langzeit-Überwachung von 63 deutschen Naturschutzflächen umgeben von Agrarland (5).
Ebenso gibt es klare Hinweise, dass die für die Bodenfruchtbarkeit zentrale Bodenfauna durch breitwirksame Insektizide stark geschädigt wird. Dabei wurde kein Beleg gefunden, dass der schädigende Effekt über die Zeit abnimmt. Dies zeigt eine Publikation von 2023(6), die 54 Studien ausgewertet hat.
Die Stoffe sind heute weitaus giftiger
Die Aussage von Chefredaktor Jürg Vollmer, dass synthetische Pestizide oft weniger schlimm als Bio-Pestizide seien, ist ebenfalls falsch: Eine umfangreiche, vergleichende Studie von 2023 (7) zeigt: Für 93 Prozent der konventionellen Pestizide braucht es gesundheitsbasierte EU-Richtwerte, aber nur für 7 Prozent der Bio-Pestizide.
Das Argument, dass heute viel weniger Kilogramm Pestizide pro Hektare eingesetzt werden, wie es die nationale Mengenstatistik zeigt, ist irreführend. Die Stoffe sind heute weitaus giftiger. So ist etwa Deltamethrin/Decis mit einer üblichen Dosis von 7g/ha ganze 10'000 Mal giftiger als DDT wovon 200 bis 600 g/ha ausgebracht wurden bevor es verboten wurde (8).
In Zukunft braucht es einen agrarökolgisch optimerten Pflanzenschutz
Die umfangreiche Faktenlage über die Belastung aller Ökosysteme mit Pestiziden zeigt, dass Pestizide massgeblich Biodiversitätsverluste mitverursachen und dabei wichtige Ökosystemleistungen wie natürliche Bestäubung, Schädlingsregulation und Bodenfruchtbarkeit geschädigt werden.
Es ist definitiv keine Hysterie, sondern wir sind in einer sehr delikaten Situation, wo auf allen Ebenen weitere negative Folgen auf die Gesundheit von Mensch und Umwelt zu verhindern sind. Zudem erfasst die aktuelle Zulassung der Pestizide nicht die wirklichen Risiken in der Umwelt (1). Insbesondere wird nicht überprüft, wie sich die Cocktails von Pestizidrückständen auf Pflanzen, im Boden und Wasser auf Nicht-Zielorganismen auswirken.
Es gilt künftig einen agrarökologisch optimierten Pflanzenschutz mit Einsatz von Smart-Technologien, funktioneller Biodiversität und weiteren indirekten Massnahmen wie insbesondere die Züchtung robuster Pflanzen zu entwickeln. Und ein Pestizideinsatz sollte ultima ratio sein.
Die im Text erwähnten Quellen und Studien (1 bis 8) können per Mail bei Lukas Pfiffner vom FiBL bezogen werden.