Wie beurteilen Sie die Umsetzung der muttergebundenen Kälberaufzucht der Familie Rusch?

Claudia Schneider:Diese Umsetzung ist sinnvoll. Den halben Tag dürfen die Kälber bei den Müttern sein, den anderen halben Tag können die Kühe Milch fürs Melken produzieren. Sie wären auch als Wildtiere nicht ständig nebeneinander.

Die Kälber wären in der Kälbergruppe. Die Kühe würden mit ihren Herdengenossinnen fressen gehen.

Weil das Trinken der Kälber nicht zweimal am Tag während der Stallzeit stattfindet, ist sicher ein gutes Auge und eine gute Beobachtung der Gesundheit und der Kondition der Kälber wichtig: Bekommen die Kälber genügend Milch? Sind sie gesund?

Welches ist die am weitesten verbreiteten Variante der muttergebundenen Kälberaufzucht?

Betriebe, die rein muttergebunden arbeiten, sind seltener. Die meisten Betriebe arbeiten mit Ammen. Die häufigste Variante in der muttergebundenen Kälberaufzucht ist deshalb schwierig zu benennen.

Es gibt eigentlich immer eine zeitweise Trennung von Kuh und Kalb, früher oder später, länger oder kürzer. Zum Teil treffen sich Kuh und Kalb auch nur zum Säugen.

Einige Betriebe lassen die Kälber nur über ein paar Wochen bei der Mutter, dann tränken sie wieder wie üblich mit dem Kessel oder verkaufen die Kälber.

Auch fürs Absetzen gibt es verschiedene Strategien. Da kommen auch Ammen zum Einsatz, zur Minderung der Milchmenge fürs Kalb.

Wie viele Betriebe gibt es in der Schweiz, die mutter- und ammengebundene Kälberaufzucht betreiben?

Schätzungsweise sind es insgesamt mindestens 50 Betriebe. Davon betreibt ein Drittel muttergebundene Kälberaufzucht.

Wie verändert sich die Euter- und Kälbergesundheit bei der Umstellung auf mutter- oder ammengebundener Kälberaufzucht?

Bisher zeigen wissenschaftliche Untersuchungen keine eindeutig bessere Kälber- und Eutergesundheit in Systemen, in denen Kälber säugen. Aber viele Betriebe berichten, dass sich die Gesundheit der Kälber durch die Umstellung steigert.

Sicher ist, dass die artgerechte Milchaufnahme für die Gesundheit der Kälber dienlich ist, insbesondere, was Durchfall-Erkrankungen angeht.

Wie sich die Eutergesundheit entwickelt, hängt stark vom System ab und wie die Kühe darauf reagieren. Die gute Euterentleerung durch die Kälber bei Ammen fördert und verbessert die Eutergesundheit. Ich stelle selber fest, dass Kühe in ihrer Zeit als Ammen oft gute Zellzahlen haben.

Gleichzeitig gab es in Studien Neuinfektionen. Diese überlagerten den heilenden Effekt der guten Euter-Entleerung.

Was sind die Hauptvorteile der mutter- und ammengebundenen Kälberaufzucht?

Für mich ist der grösste Vorteil, dass es artgerechter ist. Damit treten Verhaltensstörungen, allen voran das gegenseitige Besaugen, gar nicht mehr oder nur noch selten auf.

Dass die Kälber in Kontakt mit erwachsenen Tieren kommen, hilft ihrer sozialen Entwicklung. Das ist für die Haltung ebenfalls von Vorteil.

Besteht eine Nachfrage der Konsumenten nach Milch und Fleisch aus der mutter- und ammengebundenen Kälberaufzucht?

Ja, es besteht eine Nachfrage. Ich habe immer wieder Anfragen von Konsumentinnen und Konsumenten, die vor allem Milch und Milchprodukte suchen.

Können Sie sich vorstellen, dass die Mehrwerte, die durch die mutter- und ammengebundene Kälberaufzucht entstehen, zukünftig bei der Vermarktung der Milch und des Fleisches ausgelobt werden?

Ja. Demeter Schweiz und ich arbeiten im Moment daran, die Vermarktung der Produkte aus der mutter- und ammengebundenen Kälberhaltung in einem ersten Schritt für Direktvermarkter aufzubauen.

Zusammen mit ein paar Land-wirtinnen und Landwirten haben wir definiert, was wir unter mutter- und ammengebundener Kälberhaltung verstehen. Die Details und ein Logo zur Kennzeichnung dieser Produkte sind in Arbeit. Online wird es eine Liste der Betriebe geben. So sehen Konsumenten, wo man diese Produkte kaufen kann.

Im Fleischbereich hat das FiBL ein Projekt mit Coop und Bio Suisse, in dem wir prüfen, ob und wie eine Kälbermast von Kälbern aus der Milchviehhaltung an Müttern und Ammen und mit Weidegang funktionieren kann.

Wie sehen Sie die Zukunft der mutter- und ammengebundenen Kälberaufzucht?

Vor zwei Jahren waren wir noch weit davon entfernt. Aber heute nimmt die Zahl der Betriebe merklich zu, die versuchen ihre Kälber am Euter saugen zu lassen – ob an der Mutter oder an einer Amme.

Nicht, dass die Mehrheit der Betriebe bald so verfahren wird. Aber es ist Bewegung in die Sache gekommen.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

 

Zur Person

Die Agronomin Claudia Schneider arbeitet am Forschungsinstitut für biologischen Landbau FiBL. Sie ist Beraterin für mutter- und ammengebundene Kälberaufzucht und für Laufstallhaltung behornter Kühe. Zusammen mit ihrem Partner Bendicht Glauser hat sie einen landwirtschaftlichen Betrieb in Tägertschi BE. Sie betreiben unter anderem Milchwirtschaft mit mutter- und ammengebundener Kälberaufzucht.