Herbst 1964 – wir waren jetzt ein Jahr auf unserer Pionierfarm in Cecil Lake. Für mich und meine Eltern fing am 7. September eine neue Ära an: Ich begann die erste Klasse.

Freude am ersten Tag

Für Mom und Dad war das Schulsystem in Kanada fremd, mit dem Englisch hatten sie immer noch recht Mühe. Unsere Schulbücher würden ihnen da eine grosse Hilfe werden. Nebst dem ABC musste die Lehrerin mir noch viel von der Sprache beibringen. Wir Kinder würden aber bald zu Hause untereinander nur noch Englisch sprechen, unsere Eltern mit uns weiterhin Schweizerdeutsch.

Auf einem Foto von diesem Tag freue ich mich sichtlich, halte eine gestickte Tasche in der Hand. Darin war mein Mittagessen. Wir wussten nicht, dass der erste Schultag nur dazu da war, die Kinder zu registrieren. Vielleicht hat man es uns gesagt und meine Eltern hatten es nicht verstanden.

Normalerweise begann der Schultag um 9 Uhr und endete um 15 Uhr. Die meisten Kinder kamen mit dem Bus an, ausser mir und ein paar Jungs aus der Nähe, die auf ihren Pferden zur Schule ritten. Für die Pferde hatte es extra einen Stall. Auch ein Eishaus gab es da; darin wurden grosse Eisklötze in Sägemehl aufbewahrt. Diese wurden im Winter aus dem gefrorenen See gesägt und lieferten das Trinkwasser für die Schule.

[IMG 2]

Kein einfacher Start

Das Schulhaus kannte ich gut, wir wohnten nur ca. 200 Meter weit davon entfernt. Ich spielte oft mit den Söhnen des Lehrers und der Hausmeisterin. Kaum war ich an diesem Tag auf dem Schulplatz angekommen, rannte ich auf meine Freunde zu. Diese kehrten mir den Rücken zu, wandten sich richtig von mir ab. Anscheinend war es den Buben peinlich, sich mit diesem fremden Mädchen sehen zu lassen.

Es würde eine Weile dauern, bis ich mich unter den Mädchen wohlfühlte. Unser damaliger Pfarrer sagte mir später, wir sollten nicht unterschätzen, was es bedeutete, ein Immigrantenkind zu sein. 1992 würden es meine eigenen Kinder viel einfacher haben. Obwohl auch ihre Englischkenntnisse minimal waren, wurden sie in der kanadischen Schule von Anfang an voll akzeptiert.

Ab in die Wildnis

Im Spätsommer ging es mit vollbepacktem Auto zum Heidelbeerensammeln in die Wildnis. Sogar unser Vater kam mit. Wie hatten wir bloss alle Platz im Volkswagen-«Chäfer»? Meine Eltern, fünf Kinder, ein Picknick mit Kaffee und Kuchen und drei Milchkannen. Dann krochen wir einen Tag lang den niedrigen Blaubeerstauden entlang.

Am Ende des Tages hatten wir mindestens zwei der Kannen voll mit Beeren. Es war nicht nur ein schöner Tag, sondern auch ein wichtiger Beitrag an die Selbstversorgung; ähnlich wie für die Menschen, die vor uns hier waren, die «First Nations»-Völker.

Vor einigen Wochen fuhr ich mit meinen Schwestern wieder einmal in die Wildnis. Klar, mit Picknick und Kaffee. Ein Tag wie aus unserer Kindheit – nur schmerzten uns Knie und Rücken viel mehr als in jungen Jahren!

[IMG 3]

Genug zu essen

Dad schreibt in seinem Buch, dass in diesem ersten Herbst die Gefriertruhe, die Gestelle und der Keller voll waren. Der Garten lieferte viel Gemüse und Kartoffeln. Aus der Wildnis gab es wilde Erdbeeren, Saskatoon (kanadische Blaubeeren), Himbeeren und Heidelbeeren. Hunger mussten wir sicher nicht leiden! Obwohl ich inzwischen weiss, wie finanziell schwierig diese ersten Jahre waren, merkten wir Kinder wenig davon.

Die Nachbarn um uns herum waren in der gleichen Lage. Wenige hatten fliessendes Wasser im Haus. Die Toilette war ein Plumpsklo am Waldrand. Strom hatten nur jene, die wie wir der Hauptstrasse entlang wohnten. Kürzlich fragte ich eine alte Nachbarin, wie sie unsere Familie einstufte, als wir ankamen. «Wir hatten alle genug mit unserer eigenen Arbeit zu tun», meinte sie knapp.

Lieber Milch als Wasser

Auf der Farm hatten wir jetzt sechs Kühe, unter ihnen die «Eggimann». Diese Kuh hatte ein weit nach unten hängendes Euter. Sie tat mir leid, weil dieses hin und her wippte, wenn sie abends in den Stall zurückkam. Dads Traum war eine Milchfarm, aber es würde noch neuneinhalb Jahre dauern, bis er das ersehnte Milchkontingent erhielt. Dieses konnte damals nicht gekauft werden (wir hätten ja auch kein Geld dazu gehabt), sondern wurde vergeben nach Bedarf oder wenn welches frei wurde.

So ging die Milch durch die Zentrifuge und wir brachten den Rahm in die Stadt zur Milchzentrale. Der Erlös lies einiges zu wünschen übrig, aber er hielt uns mehr oder weniger über Wasser. Apropos Wasser – dies kam von dem Weiher, den Dad ausgraben liess, als wir ankamen, und es war nicht immer so sauber. Wir tranken einfach Milch zu jeder Mahlzeit.

[IMG 4]
Zur Person

Marianne Stamm ist 1963 fünfjährig mit den Eltern vom Thurgau nach Cecil Lake ausgewandert. Dort, weit nördlich im kanadischen British Columbia ist sie auf einer Pionierfarm aufgewachsen, welche zu einer stattlichen Milchfarm heranwuchs. Als ältestes von sieben Geschwistern kam sie mit 21 zurück in die Schweiz. Gemeinsam mit ihrem Mann Robert bewirtschaftete sie für zwölf Jahre den Emmerhof in Schleitheim SH.

Ende 1991 wanderte die Familie mit den zwei Söhnen (10- und 11-jährig) ein zweites Mal nach Kanada aus. Nördlich von Edmonton bewirtschafteten Stamms eine 580-ha-Getreidefarm. Sie fingen wie schon die Eltern noch einmal bei null an, und doch ganz anders. Weil keiner der Söhne die Farm übernehmen wollte, wurde sie 2006 verpachtet. Seit 2012 ist die regelmässige BauernZeitung-Mitarbeiterin wieder in Schleitheim zu Hause. Die Kinder und Enkel halten sie hier.