Kurz & bündig

– Der deutsche Grünen-Politiker Cem Özdemir (1965) ist seit dem 8. Dezember 2021 Minister für Ernährung und Landwirtschaft.
– Fleisch solle kein Luxusgut werden, aber Landwirte und Verarbeiter müssten auch leben können, sagt Cem Özdemir.
– Özdemir kündigt die Neuausrichtung der Agrar-Finanzierung in Deutschland teilweise nach Schweizer Vorbild an.
– Özdemir spricht darüber, wieso er Vegetarier wurde und welchen Bezug zur Landwirtschaft er als Enkel von anatolischen Bauern hat.

Grüner Real-Politiker, Schwabe mit türkischem Migrationshintergrund, studierter Sozialpädagoge und Vegetarier. Das ist der neue deutsche Landwirtschaftsminister Cem Özdemir. Er passt in keine Schublade – und könnte vielleicht gerade deshalb der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Platz sein.

Herr Özdemir, Sie sind kaum im Amt und haben schon Ärger. «Keine Ramschpreise für Lebensmittel» haben sie mit Blick auf Bauern, Tierwohl und Klima gefordert. Wie sollen sich diejenigen höhere Preise leisten, die jeden Euro dreimal umdrehen müssen?

Cem Özdemir: Jeder soll sich weiterhin Fleisch leisten können. Es soll kein Luxusgut werden. Aber es erstaunt mich doch immer wieder, dass gerade Union (die Schwester-Parteien CDU und CSU) und Linkspartei stets dann die Sozialpolitik für sich entdecken, wenn es um den Diesel-Preis oder billiges Fleisch geht. Ich finde es unredlich, wenn nun bestimmte Gruppen gegeneinander ausgespielt werden.

Soziale Gerechtigkeit beginnt für mich auch bei den ArbeiterInnen in den Schlachthöfen, deren Mindestlohn wir endlich anheben werden. Und es geht um unsere LandwirtInnen, die wie alle anderen auch von ihrer Arbeit leben können müssen. Ausserdem wollen wir das Klima schützen und die Tierhaltung verbessern. Landwirtschaftspolitik muss selbstverständlich sozial sein – aber sie ersetzt eben nicht die Sozialpolitik.

Auch die Grüne Jugend kritisiert, bevor es höhere Lebensmittelpreise gebe, müssten die Menschen erst mal aus der Armut geholt werden. Sind Ihre Ideen Luxusdenken?

Es ist Luxus, weiterhin nichts zu tun, bis irgendwann der Stein der Weisen gefunden ist. Ich freue mich über die Debatte, und wir alle wissen, dass wir jetzt endlich anfangen müssen mit konkreten Verbesserungen beim Tierwohl und beim Klimaschutz. Zumindest auf grüner Seite haben wir da keinen Dissens.

Die öffentliche Diskussion hilft, sich darüber bewusst zu werden, wo die Lebensmittel herkommen und welche Leistung dahintersteckt. Wenn wir die knalligen Überschriften hinter uns lassen und mehr Differenzierung wagen, dann wird das was.

Trifft Sie der Vorwurf der sozialen Ungerechtigkeit nicht?

Mir muss als Arbeiterkind niemand von sozialer Gerechtigkeit erzählen. Ich weiss, was es heisst, wenn beide Eltern arbeiten mussten, in Schichtarbeit, im Akkord. Mein Vater hatte neben seinem Job in der Fabrik sogar noch einen Zweitjob an der Tankstelle, um die Familie über Wasser zu halten. Ich wehre mich dagegen, die Strukturen eines kranken und ausbeuterischen Systems einfach zu belassen.

Wie sollen nun die Geringverdiener mit ihrem Budget auskommen, wenn Essen teurer wird?

Unsere Koalition (die Ampel-Koalition Rot-Gelb-Grün = SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen) dreht an vielen Rädern gleichzeitig: Es wird einen höheren Mindestlohn geben, wir werden die Sozialleistungen erhöhen. Wir sorgen für gute Bildungspolitik, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und bessere Renten.

Aber wir können nicht innerhalb von wenigen Wochen alle Probleme auf einmal lösen, die sich in 16 Jahren angehäuft haben. Aber wir haben angefangen.

Was machen Sie anders als Ihre Vorgängerin Julia Klöckner von der CDU?

Im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft BMEL wollen die MitarbeiterInnen machen, umsetzen, verändern. Entscheidungen wurden bisher von der Führung ausgesessen – aus Angst vor Gegnern, aber auch vor der eigenen Partei. So läuft das mit mir nicht. Wir müssen am grossen Rad drehen.

Kurz vor den Wahlen für die neue deutsche Regierung legte die EU die Gemeinsame Agrarpolitik GAP für die nächsten sieben Jahre fest. Die deutschen Grünen haben sie als zu wenig weitreichend kritisiert. Was können Sie jetzt noch tun?

Ich habe diese Reform leider geerbt und kann das erst mal nicht ändern. Es ist bedauerlich, dass die Agrarzahlungen weiterhin vor allem den Landbesitz belohnen statt Leistungen für den Umwelt- und Klimaschutz. Das ist nicht mein System, das können Sie mir glauben. Blockiert habe ich es dennoch nicht, weil die BäuerInnen jetzt Planungssicherheit brauchen.

2024 werden wir es jedoch mit Blick auf die Zielerreichung überprüfen und anpassen sowie ein Konzept für die nächste Agrarreform erarbeiten.

Unser Ziel ist es, dass es Finanzierung aus öffentlichen Kassen dann nur noch für öffentliche Leistungen gibt. Die LandwirtInnen müssen mit Umweltschutz, Tierschutz und Klimaschutz Geld verdienen können, als verlässliche Einkommenssäule.

Über die deutsche Agrarpolitik haben sich schon viele Politiker Gedanken gemacht. Das Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung (ein Beratungsgremium mit Fachleuten aus Politik, Wissenschaft, Praxis, Wirtschaft sowie Verbänden) hat vorgeschlagen, Landwirten die Umbaukosten für Arten- und Klima-schutz bis zu 90 Prozent zu erstatten. Das kostet bis fünf Milliarden Euro pro Jahr. Ist das der richtige Weg?

Wenn wir Strukturreformen wollen, müssen wir die LandwirtInnen finanziell unterstützen. Es kostet nun mal viel Geld, einen Stall umzubauen.

Kein Bauer steht morgens auf und sagt, er will Tiere schlecht halten oder Nitrat im Boden und im Grundwasser haben. Es sind die Strukturen, die das bislang erzwingen – und die wir ändern wollen.

Im Vergleich zu den Summen, die wir in der Automobil-Industrie aufwenden für die Transformation vom fossilen Verbrenner zur emissionsfreien Mobilität, ist der Unterstützungsbedarf der Landwirtschaft relativ bescheiden.

Auf unsere Nachfrage, ob Minister Cem Özdemir die deutsche Landwirtschaftspolitik nach Schweizer Muster gestalten wolle, wich seine Sprecherin zuerst aus, präzisierte dann aber:

«Für Deutschland haben wir klare Ziele im Koalitionsvertrag:

– 30 Prozent der Anbauflächen sollen bis 2030 biologisch bewirtschaftet werden.
– Der Pflanzenschutzmittel-Einsatz soll stark eingeschränkt werden, Glyphosat bis 2023 vom Markt verschwinden.
– Tierbestände müssen sich an der Fläche orientieren.
– Die artgerechte Nutztier-Haltung soll mit einem steuerfinanzierten Modell gefördert werden.
– Eine Tierhaltungs-Kennzeichnung mit Infos zu Haltung, Transport und Schlachtung soll noch 2022 kommen.
– Die Kriterien für Qualzucht sollen konkretisiert und die Anbindehaltung bis spätestens 2032 verboten werden.
– Dezentrale und mobile Schlachtstrukturen sollen gefördert werden.
– Die Datenbank TRACES, die alle Tiertransporte in der EU erfasst, soll ausgebaut werden.
– Eine Plattform mit allen staatlichen Daten und Diensten für Landwirte soll geschaffen werden.»

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Dafür muss aber der Agrar-Etat wachsen. Oder sollen die Verbraucher über eine Tierwohl-Abgabe helfen, wie die vorherige Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner es vorgeschlagen hatte?

Vieles ist denkbar. Zum Nulltarif ist eine soziale und ökologische Neuausrichtung der Agrarpolitik jedenfalls nicht zu haben. Wenn wir es ernst meinen, müssen wir auch die Mittel dafür zur Verfügung stellen. Darüber werden wir Gespräche führen.

Eine Massnahme, die in der Schweiz für Erstaunen sorgte, war das Kükentöten-Verbot per 1. Januar 2022 (noch unter Landwirtschaftsministerin Klöckner). In der vergleichsweise kleinen Schweiz braucht es noch mehrere Jahre, um diese einschneidende Massnahme praktisch umzusetzen. Wie ist dies im zehn Mal grösseren Deutschland möglich? Hat Deutschland das Ei des Kolumbus gefunden? Also eine einfache Lösung für ein scheinbar unlösbares Problem?

«Das deutsche Bundeslandwirschaftsministerium hat Millionenbeträge in die Forschung investiert, damit wir das Kükentöten rechtssicher verbieten können und den Brütereien Alternativen zur Verfügung stehen, wie zum Beispiel die Geschlechtererkennung im Ei.

Grundsätzlich können die Anforderungen des Tierschutzgesetzes aber auch durch die Verwendung der Bruderhahnaufzucht und die Verwendung von Zweinutzungshühnern umgesetzt werden.

Unser Gesetz ist verfahrensneutral. Die Eier müssen also zu einem frühen Zeitpunkt aussortiert oder die männlichen Küken müssen aufgezogen werden.»

Tatsächlich wurde die Kükenzucht aus Deutschland einfach in die Niederlande und nach Polen verlagert. Die männlichen Küken werden dort weiterhin geschreddert oder gemästet und nach Afrika exportiert und nur die weiblichen Küken nach Deutschland gefahren.

Die Auseinandersetzungen über die deutsche Agrarpolitik waren oft sehr lautstark, Traktoren-Demos inklusive. Wie werden Sie damit umgehen?

In einer Demokratie kann man Regierungshandeln infrage stellen, kritisieren und gerne auch mal polemisch werden. Das muss man aushalten. Wichtig ist, dass man dabei respektvoll miteinander umgeht und dass das Privatleben der Leute draussen gehalten wird.

Für politische Auseinandersetzungen sind in meinen Augen drei Dinge entscheidend:

  • Zuhören.
  • Nicht glauben, dass man alles besser weiss.
  • Und unterschiedliche Interessen zusammenbringen.

Das ist mein Weg.

Klingt, als müssten sich die Grünen-Wähler eher auf Enttäuschungen einstellen.

Das sehe ich nicht. Man muss sehen, was im Vergleich zum Status Quo erreicht wird. Aber wir Grüne haben bei der Wahl eben auch nicht 40,8 Prozent geholt, sondern nur 14,8 Prozent.

Und so wie ich der festen Überzeugung bin, dass wir gute Inhalte haben, sind die Koalitionspartner es möglicherweise auch. Also muss ich das in einen Ausgleich bringen.

Bei den Lebensmittelpreisen ist auch der Detailhandel im Spiel.Was schwebt Ihnen da vor?

Die grossen Player dürfen nicht mehr länger die Preise diktieren und Margen optimieren. Für alle in der Lebensmittelkette braucht es faire Bedingungen.

Wir wollen dafür unter anderem die kartellrechtliche Missbrauchsaufsicht und die Fusionskontrolle im Bundeskartellamt stärken, weiter gegen unlautere Handelspraktiken vorgehen und prüfen, ob der Verkauf von Lebensmitteln unter Produktionskosten unterbunden werden kann.

In der Schweiz beherrschen Migros und Coop den Markt zu 70 Prozent – und diktieren den Bauern die Preise. Auch in Deutschland haben die grossen Gruppen von Edeka, Rewe (Rewe, Billa und Penny), Aldi und Schwarz (Lidl, Kaufland) einen Marktanteil von 70 Prozent. Auf die Frage, wie Minister Özdemir diese Marktmacht brechen möchte, erklärte seine Sprecherin:

«Bereits im Juni 2021 ist das Agrar-organisationen- und Lieferkettengesetz (AgrarOLkG) in Kraft getreten. Damit wird ordnungsrechtlich gegen unfaire Handelsbeziehungen vorgegangen. Mit dem Gesetz wurden zahlreiche unfaire Handelspraktiken verboten, die gerade kleinere Erzeuger bisher klar benachteiligt haben.

Bei der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung BLE wurde eine Durchsetzungs-Behörde eingerichtet, bei der Lieferanten eine Beschwerde einlegen können.

Wir werden weiter konsequent gegen unfaire Handelspraktiken vorgehen. Zudem wollen wir die kartellrechtliche Missbrauchsaufsicht und Fusionskontrolle im Bundeskartellamt stärken. Ausserdem werden wir prüfen, ob der Verkauf von Lebensmitteln unter Produktionskosten unterbunden werden kann.»

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Ende 2022 läuft in der EU die Zulassung des Herbizides Glyphosat aus. Der Herstellerantrag auf Verlängerung ist gestellt ...

Wir wollen Glyphosat aber schon 2023 vom Markt nehmen. In der EU suchen wir nach Verbündeten, damit die Zulassung nicht verlängert wird.

Glyphosat ist das bestuntersuchte Herbizid der Welt und ohne Glyphosat fahren die Landwirte 22 bis 75 Prozent kleinere Ernten ein. Auf die Frage, ob ein Verbot dieses wirksamen und bodenschonenden Pflanzenschutzmittels sinnvoll sei, erklärte die Sprecherin von Cem Özdemir:

«Wir werden Alternativen zu Pflanzenschutzmitteln stärken. Zuallererst die Möglichkeit einer mechanischen Bodenbearbeitung. Ausserdem werden verstärkt die Grundsätze des Integrierten Pflanzenschutzes angewendet, wie zum Beispiel Fruchtfolge, Saatbett-Bereitung, Aussaat-Termin und Untersaaten.»

Haben Sie eigentlich auch einen persönlichen Zugang zur Landwirtschaft, ein Bauernhof-Erlebnis?

Die Eltern meines Vaters waren Landwirte. Dort, in der Türkei, war ich früher immer in den Sommerferien. Und nun, viele Jahre später, schliesst sich der Kreis.

Mein Vater hat als Kind bittere Armut und Hunger erlebt. Er ist als Arbeiter nach Deutschland gekommen. Den Respekt vor harter Arbeit habe ich früh gelernt. Und ich bin in einer Kleinstadt auf der Schwäbischen Alb aufgewachsen, da ist einem die Landwirtschaft auch nicht so ganz fremd.

Die Grünen haben 2013 richtig Ärger bekommen, als Sie im Wahlprogramm einen Veggie-Day für Kantinen gefordert haben. Trauen Sie sich da nochmal ran?

Ich bin seit meinem 17. Lebensjahr überzeugter Vegetarier. Das musste ich mir hart erkämpfen, denn mein Vater hatte dafür kein Verständnis. Ich bin also unverdächtig, da ein Softie zu sein.

Aber: Wer wann was isst, geht den Minister für Ernährung und Landwirtschaft und die Bundesregierung nichts an. Allerdings sollte es in Kantinen auch Auswahl geben, also auch ein gutes vegetarisches und veganes Angebot. Im Übrigen glaube ich, dass die Gesellschaft da inzwischen viel weiter ist, als manche meinen.

Wir retten die Welt nicht dadurch, dass wir an einem Tag in der Woche vegetarisches Essen propagieren, sondern indem wir dafür sorgen, dass wir künftig etwa die Futtermittel nicht mehr aus Südamerika importieren und dafür dort Regenwälder abgeholzt werden.

Ich will mich um die Strukturen kümmern. Einkaufen müssen die Leute selber.

Das Interview mit Cem Özdemir führten Steven Geyer und Daniela Vates vom RedaktionsNetzwerk Deutschland RND.
Die Schweiz-bezogenen Fragen (in den grauen Kästchen) stellte ergänzend dazu «die grüne»-Chefredaktor Jürg Vollmer.